Stepan Andrijowytsch Bandera (ukrainisch Степан Андрійович Бандера, wiss. Transliteration Stepan Andrijovyč Bandera; * 1. Januar 1909 in Staryj Uhryniw, Galizien, Österreich-Ungarn; † 15. Oktober 1959 in München) war ein nationalistischer ukrainischer Politiker (OUN) und Partisanenführer (UPA).
1934 wurde Bandera wegen der Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki verurteilt, kam jedoch nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges frei. Er arbeitete mit der deutschen Wehrmacht zusammen und seine Milizen übernahmen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Lemberg teilweise die Polizeigewalt. Sie bereiteten unter anderem Verhaftungen und Massenerschießungen vor. Nachdem andere Mitglieder der OUN einen unabhängigen Staat ausgerufen hatten, inhaftierte die Gestapo Bandera 1942 im KZ Sachsenhausen als Ehrenhäftling mit besseren Haftbedingungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh Bandera zurück nach Deutschland und wurde in der Sowjetunion in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er wurde 1959 in München von einem KGB-Agenten ermordet.
Die Beurteilung von Bandera ist in der Ukraine sehr umstritten. Im Osten des Landes, aber auch in Polen, Russland und Israel gilt er überwiegend als NS-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im Westen der Ukraine wird er hingegen von vielen Ukrainern als Nationalheld verehrt.[1] Von einigen Historikern wie Per Anders Rudling und Grzegorz Rossoliński-Liebe wird er als Faschist bezeichnet.[2][3]
Stepan Bandera wurde 1909 in Staryj Uhryniw geboren, das damals als Uhrynów stary zum österreichischen Bezirk Kałusz in Galizien gehörte. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns fiel das Gebiet an Polen. Beide Eltern stammten aus christlichen Familien, sein Vater Andrij war Priester der ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Seine Geschwister waren: Marta-Marija (1907–1982), Oleksandr (1911–1942), Wolodymyra Bandera-Dawydjuk (1913–2001), Wassyl (1915–1942), Oksana (1917–2008) und Bohdan (1919–1944). Der junge Bandera besuchte die Schule in Stryj. 1922 starb seine Mutter an Tuberkulose.
Nach dem Schulabschluss studierte Bandera ab 1928 am Polytechnikum Lemberg (Lwiw), an dem zur damaligen Zeit Ukrainern nur wenige Veranstaltungen offenstanden.[4] Er schloss sich der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an, die von Andrij Melnyk geleitet wurde. In der Hierarchie der OUN stieg Bandera schnell auf und gehörte bereits Anfang der 1930er Jahre zu deren Führungskader.
Im Jahre 1934 wurde Bandera in Polen zum Tode verurteilt, weil man ihm eine Beteiligung an der Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki vorwarf. Diese Strafe wurde jedoch in lebenslange Haft umgewandelt. Im September 1939, nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion, kam er wieder frei. Die Gründe für seine Freilassung sind unklar.
Nach seiner Freilassung begab sich Bandera in das von Deutschland besetzte Krakau, wo er unter dem Decknamen Konsul II mit dem Nachrichtendienst der Wehrmacht zusammenarbeitete, der sich davon ein Zusammenwirken mit der OUN erhoffte.[5] Im „Generalgouvernement“ wurden so vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion unter deutscher Aufsicht Kampfverbände wie das Bataillon Nachtigall aus den Reihen der OUN gebildet.
Aufgrund von Differenzen zwischen Bandera und Andrij Melnyk kam es 1940 zur Spaltung der OUN. Während Melnyk fortan die konservative OUN-M unterstand, leitete Bandera die revolutionäre und radikal antisemitische OUN-B (das B steht für banderiwzi, also „Banderisten“ oder „Bandera-Leute“). Sie sprach sich für eine sofortige Unabhängigkeit der Ukraine aus und bekämpfte die Melnyk-Anhänger blutig.[6]
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Lwiw (Lemberg) proklamierte Banderas Stellvertreter Jaroslaw Stezko am 30. Juni 1941 eine unabhängige Regierung der Westukraine. Durch OUN-B aufgestellte Milizen übernahmen teilweise die Polizeigewalt und waren maßgeblich an Pogromen gegen die jüdische Zivilbevölkerung beteiligt, die durch einen wenige Tage zuvor von Einheiten des sowjetischen NKWD an etwa 4000 ukrainischen Häftlingen begangenen Massenmord angeheizt wurden. Die Miliz bereitete durch Verhaftungen die Massenerschießung von 3000 Juden durch die Einsatzgruppe C der deutschen Sicherheitspolizei am 5. Juli 1941 vor.[7] Bandera selbst hat sich an dem Tag laut Erkenntnissen ukrainischer Historiker allerdings nicht in Lemberg, sondern in Krakau aufgehalten; ob er in dem Pogrom involviert war, ist bis zur Gegenwart umstritten.[8]
Da ein unabhängiger ukrainischer Staat nicht den Vorstellungen der Nationalsozialisten entsprach, wurde Bandera im Juli 1941 verhaftet und im sogenannten Zellenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen untergebracht, in dem unter anderem auch der ehemalige österreichische Kanzler Kurt Schuschnigg festgehalten wurde. Während zwei von Banderas Brüdern, Oleksandr und Wassyl, im KZ Auschwitz unter ungeklärten Umständen ums Leben kamen,[9] angeblich von polnischen Mithäftlingen erschlagen,[10] genoss Bandera selbst in Sachsenhausen einen Sonderstatus als so genannter Ehrenhäftling. So bewohnte er eine größere möblierte Zelle mit getrenntem Schlaf- und Wohnbereich, Bildern an den Wänden und Teppich auf dem Boden.[2]
Nach Grzegorz Rossoliński-Liebe war Bandera ein „überzeugter Faschist“.[3] Er weist Bandera für die während seiner Abwesenheit 1943/44 verübten Massaker in Wolhynien und Ostgalizien eine zumindest „moralische Verantwortung“ zu. „Vor dem Krieg machte er (Bandera) kein Geheimnis daraus, dass ‚nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen‘, damit die OUN ihre Ziele realisieren und ein ukrainischer Staat entstehen könne. Die Massengewalt beziehungsweise die ‚Säuberung‘ der Ukraine von Juden, Polen, Russen und anderen ‚Feinden‘ der Organisation war ein zentraler Bestandteil seiner Ziele.“[3]
Am 25. September 1944 wurde Bandera aus der Haft entlassen. Er sollte ein ukrainisches Nationalkomitee gründen und an der Seite der Nationalsozialisten Aktionen des ukrainischen Widerstandes gegen die Rote Armee lenken, doch kam es wegen des raschen sowjetischen Vormarsches nicht mehr dazu.[2] Im Dezember 1944 lehnte Bandera die von den Nationalsozialisten angebotene Zusammenarbeit ab.[11] Die UPA löste sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in rivalisierende Gruppen auf, die bis zum Ende der 1950er Jahre aktiv waren.[12]
Im Herbst 1946 flüchtete Bandera über Österreich nach München,[12] wo er sich unter dem Namen Stefan Popel[13] jahrelang vor dem sowjetischen Geheimdienst versteckte, da er in der Sowjetunion wegen seiner antisowjetischen Aktionen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. 1946 gründete er die Auslandsstelle der OUN, eine weitere Abspaltung, da er sich weigerte, das Bekenntnis zu Rede- und Gedankenfreiheit sowie Minderheitenrechten mitzutragen, das die OUN-B im Sommer 1943 abgegeben hatte.[14]
1947 wurde Bandera im Exil Vorsitzender der OUN und blieb dies bis zu seinem Tod.[15]
Der KGB-Agent Bogdan Staschinski ermordete ihn am 15. Oktober 1959 im Eingang seines Wohnhauses in der Kreittmayrstraße 7[12] mit einer pistolenähnlichen Waffe, die Blausäuregas versprühte. Bandera wurde lebend aufgefunden, starb aber wenig später; seine Leiche wurde von dem Münchner Rechtsmediziner Wolfgang Spann obduziert. Am 20. Oktober wurde er auf dem Münchener Waldfriedhof[16] bestattet.
Als Auftraggeber des Mordes wurde der KGB identifiziert.[17] Der Täter stellte sich[18] und wurde am 19. Oktober 1962 zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.[19] Bandera war nicht der einzige ukrainische Exil-Nationalist, der vom KGB getötet wurde: Jewhen Konowalez wurde 1938 in Rotterdam mit einer Sprengfalle und Lew Rebet 1957 ebenfalls von Bogdan Staschinski in München getötet.
Banderas Frau Jaroslawa, mit der er seit Juni 1940 verheiratet war, und ihre drei Kinder Natalia (1941–1985), Andrei (1944–1984) sowie Lesya (1947–2011) wanderten nach Toronto (Kanada) aus.[20]
Vor allem im Westen der Ukraine wird Bandera heute von breiteren Bevölkerungsschichten als Nationalheld verehrt;[21] dort gibt es seit 2014 auch Hunderte nach ihm benannte Straßen, viele lebensgroße Statuen und Büsten, einige monumentale Denkmäler sowie mehrere Museen zu seinen Ehren.[22] Die insbesondere in der Westukraine politisch erfolgreiche nationalistische Allukrainische Vereinigung „Swoboda“ sowie die rechtsextreme Organisation Prawyj Sektor berufen sich ebenfalls auf Bandera. Die Anhänger des Fußballvereins Karpaty Lwiw zeigen bei Heimspielen ihres Vereins regelmäßig große Transparente mit seinem Konterfei.[23] Umfragedaten zeigen, dass die Bandera-Verehrung ausschließlich auf den Westen begrenzt ist. Im Zentrum und im Südosten des Landes ist die Zustimmung zu Bandera mit wenigen Ausnahmen sehr niedrig.[24] In der Ostukraine, aber auch in Polen, Russland und Israel gilt Bandera hingegen überwiegend als Verbrecher und NS-Kollaborateur. Der schwedisch-US-amerikanische Historiker Per Anders Rudling bezeichnet Bandera als Faschisten.[2]
Am 22. Januar 2010 verlieh der damalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko Bandera postum den Ehrentitel Held der Ukraine.[25] Die damalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko von der Vaterlandspartei sprach Juschtschenko in dieser Angelegenheit ihre Unterstützung aus.[26] Die polnische und russische Regierung sowie einige andere Institutionen protestierten gegen diese Ehrung.[27] Das Europäische Parlament äußerte die Hoffnung, dass der neue Präsident der Ukraine diesen Präsidialerlass revidiere. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum verurteilte die Ehrung und wies darauf hin, dass Bandera Mitschuld am Tod von Tausenden Juden trage.[28]
Im März 2010 kündigte der neue Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowytsch, an, dass Juschtschenkos Erlass außer Kraft gesetzt werde.[29] Im Januar 2011 wurden gerichtliche Entscheidungen, den Titel wieder abzuerkennen, schließlich rechtskräftig.[30] Die Pressestelle des Blok Juliji Tymoschenko kritisierte die Gerichtsentscheidung als politisch. Die Aberkennung sei zudem ein Bruch von Wahlversprechen Janukowytschs.[31]
Banderas Grab in München wurde in der Nacht auf den 17. August 2014 – während des Kriegs in der Ukraine – von Unbekannten verwüstet.[32]
Durch einen Beschluss des Stadtparlaments vom Juli 2016 wurde der Kiewer „Moskauer Prospekt“ in „Stepan-Bandera-Prospekt“ (Проспект Степана Бандери) umbenannt.[33]
Die erste umfassende und wissenschaftliche Biographie Banderas und damit einhergehend die erste eingehende Studie des um ihn entstandenen Kults erschien 2014, geschrieben von Grzegorz Rossoliński-Liebe.[34] 2017 legte Lutz C. Kleveman eine Darstellung zum Thema vor, der zur Rolle Banderas eine bislang nicht erfolgte, notwendige Auseinandersetzung mit der eigenen Kollaborations-, Faschismus- und Antisemitismus-Geschichte in der Ukraine anmahnt. Die von Bandera ausgerufene unabhängige Ukraine war mitnichten im Sinne Hitlers, doch benutzte er die ukrainischen Nationalisten und ließ aus Banderas Milizen eine ukrainische Hilfspolizei gründen. Kollaboration spielt auch im Zusammenhang mit sowjetischen Kriegsgefangenen eine große Rolle. Wie in Deutschland wurde auch in Lemberg (Lwiw) ihr Schicksal lange verschwiegen. In der Zitadelle über der Stadt, in der sich jetzt ein Luxushotel befindet, starben über 140.000 sowjetische Kriegsgefangene, weil die deutschen Besatzer sie verhungern ließen.[35]
Von russischer Seite wird seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine der Bandera-Kult staatlicher ukrainischer Stellen dazu genutzt, die durch die Revolution 2014 an die Macht gekommenen demokratischen Parteien und Politiker pauschal als „Faschisten“ zu verunglimpfen.[36] Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 haben Unbekannte sein Grab in München wiederholt geschändet.[37] Unter dem 2019 ins Amt gewählten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist der Versuch eines Wandels in der Geschichtspolitik festzustellen; sie hat sich jedoch nicht völlig verändert, da der neue Kulturminister politisch ähnlich denkt wie sein Vorgänger. Dies bedeutet auch, dass die nach Bandera und Schuchewytsch benannten Straßen in Kiew ihren Namen behalten. Die Heroisierung der OUN spielt in der offiziellen Erinnerung eine weniger große Rolle; stattdessen werden Persönlichkeiten in den Vordergrund gerückt, mit denen sich alle Ukrainer unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit und politischer Ausrichtung identifizieren können.[33]
Personendaten | |
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NAME | Bandera, Stepan |
ALTERNATIVNAMEN | Bandera, Stepan Andrijowitsch (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | ukrainischer Politiker |
GEBURTSDATUM | 1. Januar 1909 |
GEBURTSORT | Staryj Uhryniw, Galizien, Österreich-Ungarn |
STERBEDATUM | 15. Oktober 1959 |
STERBEORT | München |
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Der präsentierte Inhalt des Wikipedia-Artikels wurde im 2022-07-11 basierend auf extrahiert https://de.wikipedia.org/?curid=387290