Datum | ab 24. Februar 2022 |
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Ort | Ukraine |
Ausgang | andauernd |
Konfliktparteien | |
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Russland |
Ukraine |
Befehlshaber | |
Wladimir Putin |
Wolodymyr Selenskyj |
Truppenstärke | |
Russland ~175.000–190.000[3][4] 10.000–20.000 Söldner[5] (darunter Gruppe Wagner u. a.) |
Ukraine 209.000 (Streitkräfte) 102.000 (paramilitärisch) 900.000 (Reservisten)[6] Internationale Freiwillige Söldner (PMCs) (Siehe Liste) |
Verluste | |
Russische Angaben: 13.414 Gefallene und rund 7.000 Vermisste (Stand: 21. April, kurz nach Veröffentlichung dementiert)[8] Ukrainische Angaben: ca. 700 russische Kriegsgefangene (Stand: 16. April)[10] Westliche Einschätzung: Materialverlust Russlands: |
Ukrainische Angaben: Russische Angaben: Westliche Einschätzung: Materialverlust der Ukraine: |
3.238 bestätigte tote Zivilisten und mindestens 3.397 bestätigte verletzte Zivilisten (UNOCHA, Stand: 3. Mai)[18] Mindestens 23.870 getötete Zivilisten; 14.000 Zivilisten als vermisst gemeldet. (ukrainische Angaben, Stand: 28. bzw. 26. April) |
Annexion der Krim 2014
Referendum über den Status der Krim
Krieg im Donbas von April 2014 bis Februar 2022
I. Schlacht um den Flughafen Donezk – II. Schlacht um den Flughafen Donezk – Flug MH17 – Kampf um Debalzewe – Kampf um Mariupol 2014 – Kampf um Schyrokyne – Minsk II – Protokoll von Minsk – Referendum im Osten der Ukraine – Schlacht um Ilowajsk – Zwischenfall vor der Krim 2018
Russischer Überfall auf die Ukraine 2022
Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk – Belagerung von Mariupol – Bombardierung der Geburtsklinik in Mariupol – Bombardierung eines Wohnquartiers in Tschernihiw – Chronologie – Luftangriff auf das Theater von Mariupol – Massaker von Butscha – Schlacht um Charkiw – Schlacht um Kiew – Zerstörung des Lenkwaffenkreuzers Moskwa
Am 24. Februar 2022 begann Russland einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlene Invasion des gesamten Staatsgebiets der Ukraine eskalierte den seit 2014 schwelenden Russisch-Ukrainischen Krieg.
Ab April 2021 wurden Konzentrationen russischer Truppen in den Grenzregionen zur Ukraine beobachtet; zudem fanden dort ab Ende 2021, ab Februar 2022 auch im benachbarten Belarus, Manöver statt. Am 21. Februar 2022 erkannte Russland die Unabhängigkeit der separistischen „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk an; mit beiden schloss Russland Beistandsverträge, die aufgrund einer angeblichen Bedrohung durch die Ukraine als Vorwand für den Angriff auf die restliche Ukraine dienten, der gleichzeitig von Süden, Osten und Norden erfolgte.
Ein wichtiges ursprüngliches Kriegsziel Russlands, die Einnahme Kiews innerhalb weniger Tage und der Sturz der ukrainischen Regierung, wurde nach heftigen Kämpfen und einer wochenlangen teilweisen Umklammerung der Stadt Ende März aufgegeben, um stattdessen alle Kräfte auf eine Offensive im Osten des Landes zu konzentrieren. Beim Abzug der russischen Truppen aus allen zeitweilig besetzten Gebieten nordwestlich von Charkiw offenbarten sich Muster von Tötungen von Zivilisten, die auf Kriegsverbrechen hindeuten.
Die Invasion der Ukraine wurde am 2. März 2022 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit großer Mehrheit verurteilt. Viele Staaten verhängten umfangreiche Wirtschaftssanktionen gegen Russland und leisteten der Ukraine humanitäre und militärische Hilfe. Zudem kam es weltweit zu zivilen Protesten gegen die russische Invasion. Diejenigen in Russland führten zu massenhaften Festnahmen und einer verstärkten Zensur in russischen Medien. Dazu gehört auch das Verbot der Verwendung der Begriffe „Invasion“ und „Krieg“ im Zusammenhang mit dem Konflikt.
Anfang April 2021 wurde von ukrainischer Seite ein Aufbau russischer Truppengruppierungen entlang der Grenze zur Ukraine festgestellt. Der Chef des ukrainischen Grenzschutzes schätzte, dass sich bereits 85.000 russische Soldaten auf der Krim oder in einem Gebietsstreifen von 40 km Breite entlang der ukrainischen Grenze befanden;[22] einen derartigen Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze hatte es seit 2014 nicht mehr gegeben.[23] Die Außenminister der G7-Staaten bekräftigten ihre „Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen“.[24] Russland kündigte an, es werde vom 24. April bis Ende Oktober 2021 ausländischen Militärschiffen nur noch eingeschränkt die Durchfahrt auf drei Wasserstraßen zum Asowschen Meer erlauben.[25] Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte am 20. April, die Zahl der an der Grenze zur Ukraine und auf der Halbinsel Krim stationierten russischen Soldaten sei auf mehr als 100.000 angestiegen.[26][27][28]
Im Juli veröffentlichte Putin einen Aufsatz unter dem Titel Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern, in dem er die Existenz der Ukraine als eigene Nation bestreitet und behauptet, dass die ukrainische Regierung von westlichen Verschwörungen gesteuert sei.[29] Ende September endete die Überwachung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an zwei Grenzübergängen der von Separatisten kontrollierten „Volksrepubliken“ nach Russland, nachdem Russland seine Zustimmung dazu zurückgezogen hatte.[30] Auch im Herbst 2021 wurde, trotz eines vereinbarten Waffenstillstands[31], weiter in der Ostukraine gekämpft. Bei Hranitne beschossen prorussische Separatisten per Artillerie Positionen der ukrainischen Armee, dabei wurde ein Soldat getötet. Daraufhin setzte die ukrainische Armee eine Drohne des Typs Bayraktar TB2 zur Zerstörung des verwendeten Artilleriegeschützes ein – und brach damit ihrerseits die Abmachung der Konfliktparteien, keine Drohnen einzusetzen.[32][33] In den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden fast täglich Mitarbeiter der OSZE in ihren Bewegungen behindert; im Oktober wurden erneut die Büros und Fahrzeuge, diesmal in Donezk und Horliwka, blockiert und die OSZE-Beobachter überhaupt an Kontrollgängen gehindert.[34]
Spätestens ab Herbst 2021 wurde von westlichen Diensten und offiziellen Stellen auf „ungewöhnliche“ russische Truppenbewegungen in der Nähe der ukrainischen Grenze hingewiesen.[35] Laut Geheimdienstdokumenten standen im Dezember 2021 unterhalb von Jelnja (wo bereits 75.000 Soldaten versammelt seien) insgesamt 50 Bataillone mit je 1000 Soldaten unweit der russisch-ukrainischen Grenze und auf der Krim bereit. Dazu kämen 50.000 weitere Soldaten, die dorthin verlegt würden. Insgesamt nennt das US-Papier 175.000 russische Soldaten in der Nähe der Ukraine. Im Dezember 2021 erklärte US-Präsident Joe Biden, dass US-Geheimdienste Kenntnisse hätten, wonach Russland eine Invasion in die Ukraine plane.[36] Bei einem Treffen der G7 schloss sich Japan den Androhungen von Sanktionen an.[37] Als Reaktion auf den Truppenaufbau lieferten einige NATO-Staaten, vor allem die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, mehr Waffen in die Ukraine.[38]
Trotz des massiven Militäraufmarschs russischer Streitkräfte bestritt Wladimir Putin Planungen für einen Überfall auf das Nachbarland und verlangte Sicherheitsgarantien seitens der NATO, wie den Verzicht auf eine Osterweiterung der NATO und den Abzug aller Truppen und schweren Waffen aus denjenigen Staaten, die zuvor dem Warschauer Pakt angehört hatten.[39] Moskau strebte einen Vertrag zwischen Russland und den USA und ein Abkommen zwischen Russland und der NATO über die geforderten Sicherheitsgarantien an. Russland übergab beide Vertragsentwürfe[40][41] am 15. Dezember 2021 an die US-Regierung und veröffentlichte sie zwei Tage später.[42] Die USA und die NATO nannten die russischen Forderungen inakzeptabel, auch mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Staaten.[39]
In Vorbereitung des Treffens des NATO-Russland-Rates hatten sich am 7. Januar 2022 die NATO-Außenminister über die dort zu vertretende Position der Mitgliedsländer des Bündnisses in der Nato-Ukraine-Krise abgestimmt. Nach dem Treffen bewertete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das Lagebild des russischen Aufmarschs an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine so: Russland ziehe Schritt für Schritt mehr Kräfte mit vielen verschiedenen militärischen Fähigkeiten an der russisch-ukrainischen Grenze zusammen. Man sehe dort gepanzerte Einheiten, Artillerie und Ausrüstung zur elektronischen Kriegsführung. In der NATO wurde die Zahl der in Grenznähe operierenden taktischen Bataillone auf ungefähr sechzig geschätzt.[43] Als Mitte Januar 2022 Unterhändler der USA und Russlands verhandelten, waren laut der New York Times (NYT) nach wie vor etwas mehr als 100.000 russische Soldaten nahe der ukrainisch-russischen Grenze stationiert; außerdem seien Kampfflugzeuge, Transporthubschrauber und andere Helikopter der russischen Streitkräfte in die im Südwesten Russlands gelegenen Militärbasen verlegt worden.[44] Russland forderte bereits vor dem Treffen des NATO-Russland-Rates am 12. Januar von der NATO „Sicherheitsgarantien“; die NATO solle keine weiteren Mitglieder aufnehmen und ihre Truppen aus Osteuropa abziehen.[45] Bei dem Treffen selbst kam es zu keinen substantiellen Vereinbarungen. Der russische OSZE-Botschafter Alexander Lukaschewitsch warnte vor einem „Verschleppen der Verhandlungen“; dies könne zu einer „unvermeidlichen Verschlechterung der Sicherheitslage ausnahmslos aller Staaten“ führen. Russland sei ein friedliebendes Land. „Aber wir brauchen keinen Frieden um jeden Preis“.[46] Nach Erkenntnissen der NATO setzte Russland seine Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine unverändert fort.[47] Mit der Entsendung russischer Soldaten, Panzer, Artilleriegeschütze und Militärfahrzeuge nach Belarus ab 18. Januar – offiziell sollten im Februar gemeinsame Manöver stattfinden[48] – verschärfte Russland die Situation weiter.[48] Nach Angaben von US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield im UN-Sicherheitsrat beabsichtigte Russland bis Anfang Februar die Präsenz von russischen Truppen in Belarus auf mehr als 30.000 Soldaten auszuweiten.[49] Putin kündigte im Januar mehrere Marinemanöver an, an denen im Januar und Februar mehr als 10.000 Soldaten mit mehr als 140 Kampf- und Versorgungsschiffen und mehr als 60 Flugzeugen im Mittelmeer, in der Nordsee und im Atlantik beteiligt sein würden.[50][51]
Die Vereinigten Staaten und die NATO übergaben am 26. Januar ihre Antworten auf eine schriftlich formulierte Anfrage Moskaus zu den von Russland geforderten Sicherheitsgarantien. Einen Verzicht auf die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO wiesen die Vereinigten Staaten darin zurück.[52] Die NATO schlug in ihrer Antwort vor, die Vertretungen in Moskau und Brüssel wieder zu öffnen, die seit einem Spionagestreit geschlossen waren. Außerdem wolle das Bündnis die bestehenden militärischen Kommunikationskanäle in vollem Umfang nutzen, um die Transparenz zu fördern und Risiken zu verringern. In einem ersten Schritt zur Deeskalation, solle man sich gegenseitig über Manöver und Atompolitik im NATO-Russland-Rat verständigen.[53] Russland sagte, es wolle die Vorschläge prüfen.[52] Am 31. Januar 2022 trat in New York der UN-Sicherheitsrat zusammen, um auf einer öffentlichen Sitzung über die Ukraine-Krise zu beraten. Die Vereinigten Staaten hatten das Treffen beantragt, weil ein Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine befürchtet wurde. Russland stellte klar, dass keine Invasion geplant sei.[49]
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, warf auf einer Pressekonferenz Ende Januar in Kiew ausländischen Journalisten „Panikmache“ vor. Die Lage sei zwar ernst, doch seiner Einschätzung zufolge gebe es keine größere Eskalation als noch ein Jahr zuvor. Die Unsicherheit vor einer militärischen Verschärfung des Konflikts mache der Wirtschaft der Ukraine schwer zu schaffen. Selenskyj sagte, ausländische Investoren hätten bereits mehr als elf Milliarden Euro aus der Ukraine abgezogen. Der Umtauschkurs der Landeswährung Hrywnja fiel gegenüber dem US-Dollar auf den tiefsten Stand seit Februar 2015; die Inflationsrate sei bereits zweistellig. Eine weitere Abwertung der Landeswährung würde unweigerlich zu hohen Preissteigerungen beim Import von Erdgas, Kohle und Uran für die Kernkraftwerke führen; die Regierung wäre dann gezwungen, die Verbraucherpreise für Gas, Strom, Warmwasser und Heizung im Land stark anzuheben.[54] In der Ukraine wurden Berichte über den russischen Truppenaufmarsch daher zensiert. Dennoch hielt die Hälfte der Bevölkerung einen russischen Einmarsch laut Umfragen für möglich. Entsprechend bereiteten sich viele auf den Ernstfall vor oder ließen sich als Reservisten eintragen,[55] darunter auch Wladimir Klitschko.[56]
Ende Januar trafen sich Unterhändler der Ukraine und Russlands im Normandie-Format. Sie tauschten Positionen und Forderungen aus und bekannten sich zu einer 2020 vereinbarten Waffenruhe.[57] Ein weiteres Treffen am 10. Februar endete ergebnislos.[58]
In den Wochen vor dem eigentlichen Angriffskrieg gab es fast täglich Warnungen seitens der Vereinigten Staaten aufgrund russischer Truppenbewegungen und -konzentrationen entlang der ukrainischen Grenze. Am 10. Februar startete ein gemeinsames Manöver Russlands und Belarus’ an der nördlichen Grenze der Ukraine;[59] es sollte planmäßig am 20. Februar enden. Nach Angaben der USA verlegte Russland für das Manöver rund 30.000 Soldaten nach Belarus. Das Manöver sollte auf fünf Militärgeländen, vier Luftwaffenstützpunkten sowie an weiteren Orten in Belarus stattfinden. Einen Schwerpunkt bildete dabei die im Grenzgebiet zur Ukraine gelegene Region Brest.[60] Am 11. Februar warf das ukrainische Außenministerium Russland vor, eine Seeblockade im Schwarzen Meer errichtet zu haben.[61] Am 12. Februar folgte ein Marinemanöver bei der Halbinsel Krim, das laut russischen Angaben am 16. Februar endete. Am Tag darauf kündigte Russland einen teilweisen Truppenrückzug an, verstärkte jedoch seine militärische Präsenz.[59] In der ersten Februarhälfte riefen die Regierungen mehrerer Staaten (Japan,[62] Niederlande,[62] Vereinigtes Königreich,[62] USA,[63] Deutschland,[64] Australien, Neuseeland, Italien und Spanien) ihre Bürger zum Verlassen der Ukraine auf.[65] Gleichzeitig erhöhten die NATO-Mitgliedsstaaten – insbesondere die USA – ihre Truppenstärke in Osteuropa. Nach Polen entsandten die USA zusätzlich zu dem bereits stationierten Kontingent der amerikanischen Armee 4700 weitere Soldaten. In den baltischen Staaten wurde die Zahl ausländischer NATO-Soldaten bis zum 11. Februar auf knapp 4000 erhöht. In Rumänien wurden bis dahin 2000 Soldaten aus anderen NATO-Staaten stationiert.[66]
Am 11. Februar teilten nach Medienberichten vom selben Tag der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA und das US-Militär der deutschen Bundesregierung und anderen NATO-Verbündeten mit, sie befürchteten einen Angriff Russlands auf die Ukraine bereits in den kommenden Tagen. Daraufhin erklärte der ukrainische Präsident den 16. Februar per Dekret zum Nationalfeiertag „Tag der Einheit“.[67][68] Am 14. Februar gab US-Außenminister Blinken bekannt, dass die USA als Vorsichtsmaßnahme ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw verlegt haben.[69] Am 17. Februar kam es zu den meisten Waffenstillstandsverletzungen seit 2020, jedoch weniger als in den Jahren davor.[70] Am Tag darauf begannen prorussische Separatisten laut eigenen Angaben mit einer Massenevakuierung ziviler Einwohner aus dem Separatistengebiet Donezk in Richtung Russland. Laut den Metadaten des Videos, in dem die Separatistenführer aufgrund angeblich „überraschender“ Ereignisse zur Ausreise aufriefen, wurde jenes bereits zwei Tage zuvor aufgenommen. Weltweit wurde dies als Anzeichen für eine russische Desinformationskampagne bzw. False-Flag-Aktion interpretiert.[71][72][73] Die Angriffe setzten sich an den Folgetagen fort.[74] Am 19. Februar rief der prorussische Separatistenführer Denis Puschilin zur Generalmobilmachung aller Männer in der von prorussischen Separatisten ausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ auf. Auch in der ebenfalls von prorussischen Separatisten kontrollierten „Volksrepublik Lugansk“ wurde allen Männern im Alter von 18 bis 55 Jahren verboten, das Gebiet zu verlassen. Am selben Tag führten die russischen Streitkräfte ein Manöver und Waffentests von ballistischen Raketen und nuklear bestückbaren Marschflugkörpern durch.[75][76]
Vom 18. bis 20. Februar fand die 58. Münchner Sicherheitskonferenz statt. Von russischer Seite nahm erstmals kein Regierungsvertreter an der Konferenz teil.[77][78] Teilnehmer der Konferenz forderten Russland auf, vom Einmarsch in die Ukraine abzusehen; anderenfalls würden schwere Wirtschaftssanktionen die Folge sein. Der amerikanische Außenminister Antony Blinken erneuerte aber zugleich auch sein Verhandlungsangebot. Er werde sich mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow am Mittwoch, dem 23. Februar in Europa treffen, sofern Russland nicht vorher mit dem Krieg beginne.[79] Der chinesische Außenminister Wang Yi betonte die Souveränität der Ukraine, sprach sich gleichzeitig aber gegen eine Osterweiterung der NATO aus.[80] Der ukrainische Präsident Selenskyj warf dem Westen Sprach- und Tatenlosigkeit sowie Indifferenz vor; er erwarte sich mehr echte Unterstützung statt „leerer Worte“.[81] Außerdem stellte er am 19. Februar 2022 einen Ausstieg seines Landes aus dem Budapester Memorandum in den Raum.[82] Ein solcher Schritt würde bedeuten, dass die Ukraine wieder Atomwaffen besitzen könnte.
Am 21. Februar forderten die Anführer der prorussischen Separatisten und das russische Parlament die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk.[83] Dieser Aufforderung kam der russische Präsident Wladimir Putin durch Unterzeichnung eines entsprechenden Dekrets (Ukas) noch am selben Tag nach. In einer einstündigen Fernsehansprache[84] sprach Putin der Ukraine die Staatlichkeit ab und bezeichnete die Ostukraine als „historisch russisches Gebiet“; die Existenz der Ukraine sei ein „Betrug an Russland“.[85] Unmittelbar danach gab Putin, unter Berufung auf am selben Tag abgeschlossene „Freundschafts- und Hilfsabkommen“ mit den Separatistenregionen,[86][87] der russischen Armee den Befehl, nach Donezk und Lugansk – und damit auf ukrainisches Territorium – vorzurücken.[88][89] Spitzenpolitiker der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sowie die Regierung der USA verurteilten das Vorgehen Russlands als eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, gegen das Abkommen von Minsk und gegen die territoriale Integrität der Ukraine und kündigten in Reaktion darauf die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland an.[90][91]
Schon vor den Sanktionen verlor der Rubel gegenüber fast allen anderen Währungen an den Devisenmärkten massiv an Wert.[92] Ebenso verzeichnete der russische Aktienindex RTS Kursverluste.[93] Am Abend des 21. Februar hielt Putin eine aggressive, von russischem Nationalismus geprägte 56-minütige Ansprache im Fernsehen voller „Opfermythen“ und „Pseudohistorismus“, so eine journalistische Einschätzung. Putin beschrieb darin die Staatlichkeit der Ukraine als Werk Lenins, der ukrainischen Nationalisten entgegengekommen sei. Das Land sei nicht lebensfähig, sondern eine Kolonie mit korruptem Marionetten-Regime. Die NATO habe Russland umzingelt, während die Ukraine Atomwaffen entwickeln wolle. Als Rechtfertigung für seinen wenig später folgenden Marschbefehl behauptete er einen von der Ukraine verübten Völkermord an „Russen“ im ukrainischen Donbass.[94] Am 22. Februar beschloss die EU erste Sanktionen.[95][96][97] Die EU-Außenminister beschlossen außerdem umgehende Sanktionen für russische Personen, Organisationen und Banken sowie gegen alle 351 Mitglieder der Duma, die dem Antrag zur völkerrechtlichen Anerkennung der abtrünnigen Gebiete zugestimmt hatten. Nach den angeordneten Einreiseverboten, Kontensperrungen und Zugangsbeschränkungen zu europäischen Handels- und Finanzmärkten[98][99] verhängte die EU-Kommission auch Handelsverbote mit russischen Staatsanleihen, mit denen Russland sonst den Konflikt finanzieren könnte. Deutschland beschloss am selben Tag das Genehmigungsverfahren für Nord Stream 2 auszusetzen,[95][96][97] wohingegen die USA in Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ostukraine erste Sanktionen gegen das Regime und Unterstützer in Luhansk und Donezk in Kraft setzten.[100] Während die am 22. Februar durch Russland verkündeten Entscheidungen von NATO- und EU-Staaten sowie von Japan, Südkorea, Albanien, Kenia, Gabun und Ghana verurteilt und von Brasilien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Mexiko, Indien und China in einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats indirekt missbilligt wurden,[101][102] stellten sich der Präsident von Nicaragua, Daniel Ortega, Aljaksandr Lukaschenka in Belarus und die Kuba regierende Kommunistische Partei Kubas hinter Russland.[103]
Die Zahl der Waffenstillstandsverletzungen nahm am 23. Februar wie schon am Tag zuvor erneut zu.[104] Am 23. Februar beschloss das ukrainische Parlament, ab 24. Februar einen landesweiten 30-tägigen Ausnahmezustand zu verhängen.[105][106] Flughäfen wurden geschlossen, da sie als erstes angegriffen würden.
Um die Regierung der Ukraine zu stürzen, versuchten die russischen Streitkräfte am 24. Februar 2022 eine Luftlandeoperation auf dem Flughafen Kiew-Hostomel – die aber scheiterte. Bodentruppen rückten aus mehreren Stoßrichtungen rasch von Belarus aus nach, doch geriet der Vormarsch schon nach wenigen Tagen ca. 30 km vor Kiew ins Stocken. Nach wochenlanger Umklammerung der Stadt von Norden, Westen und Osten musste Russland den Versuch der Eroberung Kiews Ende März aufgeben. Beim Abzug der russischen Truppen aus allen zuvor eroberten Gebieten nördlich von Kiew und Charkiw offenbarten sich Plünderungen und andere Kriegsverbrechen. Der Ort Butscha erlangte weltweite Bekanntheit durch die dort begangenen Gräueltaten durch russische Truppen.
Im Osten der Ukraine konnten die ukrainischen Truppen ihre Stellungen vor Donezk entlang der seit 2014 bestehenden Kontaktlinie den ganzen März und April durchgehend halten, ebenso die nahe der russischen Grenze liegende Großstadt Charkiw, welche in der um sie geführten Schlacht erheblich zerstört wurde. Zwischen Donezk/Luhansk und Charkiw liegende Gebiete wurden von Russland besetzt. Noch stärker als Charkiw wurde die am Asowschen Meer liegende Hafenstadt Mariupol zerstört. Bis auf das lange belagerte Mariupol und den Südwesten der Ukraine (Oblast Odessa und Oblast Mykolajiw) wurden alle Gebiete im Süden der Ukraine, wo seit 2014 die Einnahme einer Landbrücke von Russland zur Krim befürchtet worden war, besetzt. Dazu gehörte auch die Stadt Cherson, die bereits Anfang März eingenommen worden war.
Der russische Vorstoß von Cherson in Richtung Odessa war Anfang März bei Mykolajiw gescheitert. Eine amphibische Landung wurde nach der Versenkung des Flaggschiffs Moskwa Mitte April nochmals unwahrscheinlicher. Gleichwohl wurde noch Mitte April von Landverbindungen nach Transnistrien gesprochen; insbesondere das russische Militär war mit den politischen Beschränkungen der Ziele auf den Donbass unzufrieden und forderte im Gegenteil ehrgeizigere Ziele und eine Generalmobilmachung in Russland.[107][108]
Eine Bürgerplattform in Belarus hatte für die ersten 70 Tage des Krieges 631 Raketenstarts in die Ukraine von Belarus aus ermittelt.[109]
Ideologische Grundlage der „putinistischen“ Politik Russlands ist das Ziel einer „Wiederherstellung“ der Russischen Welt.[110] Als Kontrahent werden dabei die USA betrachtet, die die NATO vollständig kontrollieren und als Herrschaftsinstrument benutzen würden.
Der russische Staatspräsident Putin hat bereits den Russisch-Ukrainischen Krieg – den er 2014 begonnen hatte – damit begründet, die NATO-Osterweiterung seit 1997 habe „russische Sicherheitsinteressen“ missachtet.[111] Am 1. Dezember 2021 forderte er die NATO erneut auf, sich nicht mehr nach Osten zu erweitern.[112] In konkreten, verbindlichen Vereinbarungen müsse sie „die Stationierung von bedrohlichen Waffensystemen in unmittelbarer Nähe des Gebiets der Russischen Föderation ausschließen“. Seiner Meinung nach habe die NATO sich nicht an frühere, mündliche Versprechen gehalten, dass die NATO sich nicht in Richtung Osten ausdehnt.[113] Mittelfristig müsse die seit 1997 erfolgte NATO-Osterweiterung rückgängig gemacht werden, da sie eine Bedrohung für Russland darstelle.
Am 22. Februar 2022 forderte Putin in einer Pressekonferenz von der Ukraine, sie müsse die Krim als russisches Staatsgebiet anerkennen, dürfe niemals der NATO beitreten und dürfe die Waffen, die ihr der Westen geliefert habe, nicht einsetzen. Dabei gehe es um die „Demilitarisierung“ der Ukraine. Das Minsker Abkommen sei erledigt. Umstrittene Fragen müsse die Ukraine vielmehr mit der Führung der „Volksrepubliken“ lösen. Putin behauptete, er wolle russische Truppen „im Moment nicht“ in die Ukraine entsenden. Kurz zuvor hatte Russland die Unabhängigkeit der Separatisten-Regionen anerkannt; die Ukraine lehnte Verhandlungen mit ihnen ab. Denis Puschilin, der Chef der „Volksrepublik Donezk“, erklärte, er wolle die genauen Grenzen erst später klären.[114] Putin hatte schon 2021 ein Existenzrecht der Ukraine bestritten. Gemäß der russischen Propaganda sollen die Krim und der Donbass in der russischen Einflusssphäre bleiben, die „Westukraine könne in Teilen an Polen, Ungarn und Rumänien abgetreten werden.“[115]
In einer Fernsehansprache am Morgen des 24. Februar, während einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates,[116] verkündete Putin den Beginn einer „militärischen Spezialoperation“ und bezog sich zur Rechtfertigung des Angriffs unter anderem auf die NATO-Osterweiterung seit 1997, den Angriffskrieg gegen den Irak (2003) sowie auf den Überfall auf die Sowjetunion durch Nazideutschland im Jahr 1941:[117]
„Die USA sind immer noch ein großes Land, eine systembildende Macht. Ihre Trabanten fügen sich nicht nur demütig und gehorsam, singen bei jeder Gelegenheit mit, sondern kopieren auch ihr Verhalten und akzeptieren begeistert die von ihnen vorgeschlagenen Regeln. […]“
„Der weitere Ausbau der Infrastruktur des Nordatlantischen Bündnisses, die begonnene militärische Erschließung des ukrainischen Territoriums, ist für uns inakzeptabel. Das Problem liegt natürlich nicht bei der NATO-Organisation selbst – sie ist nur ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik.“
„Uns wurde einfach keine andere Möglichkeit als die, zu der wir heute gezwungen sind, gelassen. Wir müssen Russland und unser Volk verteidigen. Die Umstände verlangen von uns, dass wir entschlossen und sofort handeln. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Teil 7 Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen mit Zustimmung des russischen Föderationsrates und in Umsetzung der von der Föderalen Versammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk den Beschluss gefasst, eine besondere militärische Operation durchzuführen.“
„Gleichzeitig sehen unsere Pläne nicht vor, ukrainische Gebiete zu besetzen. Wir haben nicht die Absicht, jemandem etwas mit Gewalt aufzuzwingen. […]“
Ein zentrales anfängliches Kriegsziel Russlands war die Einnahme Kiews innerhalb weniger Tage zum Sturz der dortigen Regierung. Nach dem Scheitern dieser Offensive konzentrierten sich die militärischen Kräfte Russlands seit Ende März auf den Osten und den Süden des Landes. Der russische Generalmajor Rustam Minnekajew erklärte am 22. April, dass Russland in der zweiten Phase des Krieges den Donbass im Osten sowie den kompletten Süden der Ukraine bis nach Transnistrien in der Republik Moldau einnehmen wolle. Damit wäre die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer getrennt.[118] Minnekajew erklärte zudem, dass nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der Republik Moldau die russischsprachige Bevölkerung unterdrückt werde. Das Außenministerium Moldaus bestellte aufgrund dieser Äußerungen den russischen Botschafter ein.[119] Nachdem in Transnistrien zwei Radiomasten gesprengt wurden, die russische Radiosender übertragen hatten,[120] warnte das russische Außenministerium am 26. April 2022 vor einem Szenario, in dem Russland intervenieren müsse. Moldaus Präsidentin Maia Sandu bezeichnete die Anschläge als einen Versuch, den Frieden in Moldau zu stören.[121]
Am 27. Februar 2022 veröffentlichten die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti und das Propaganda-Portal Sputnik versehentlich einen vor dem 24. Februar fertiggestellten Kommentar, der offensichtlich von einem Erfolg der Pläne Wladimir Putins als Szenario ausging und eigentlich erst nach dem erwarteten raschen „Sieg über die Ukraine“ veröffentlicht werden sollte. Der Kommentar war mit „Наступление России и нового мира“ betitelt, was sowohl mit „Der Aufbruch Russlands und der neuen Welt“ als auch mit „Der Angriff Russlands und der neuen Welt“ übersetzt werden kann. Demnach sollten nach dem „endgültigen und schnellen Sieg“ Russlands die drei Staaten Russland, Belarus und die Ukraine geopolitisch fortan als Union handeln. Durch den „Sieg“ habe Russland seine historischen Grenzen in Europa zurückerlangt, und der hilflose Westen könne sich nur lautstark darüber ärgern. Russland sei dabei, seine Einheit wiederherzustellen, und die „Tragödie von 1991“ (der Zerfall der Sowjetunion) sei überwunden. Der Kommentar wurde noch am 27. Februar 2022 wieder aus dem Internet genommen, ist aber im Internet-Archiv noch auf Russisch und Englisch abrufbar.[122]
Am 3. April 2022 erklärte der Autor Timofei Sergeizew in einem Beitrag für RIA Novosti die „Vernichtung der Ukraine als Staat“ als Kriegsziel. Er fordert dazu auf, zum Zweck der „Entnazifizierung“ der Ukraine „solche zehntausenden Menschen zu bestrafen und zu töten, die sich an der Verteidigung der Ukraine während des Kriegs beteiligen.“ Sergeizew schreibt weiter: „Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese ‚das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht‘ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Maßnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.“ Die „Entnazifizierung“ der Überlebenden „besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression (Unterdrückung) der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung.“[123]
In dem Text wird der ukrainischen Regierung und der Mehrheit der Menschen in der Ukraine unterstellt, vom Gedankengut des ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera stark beeinflusst zu sein.[124]
Das als Ziel des Krieges formulierte Argument des „Schutzes der seit acht Jahren im Donbass getötet werdenden Menschen“ war insofern irreführend, als sich 90 Prozent aller Todesfälle in den Jahren 2014/2015 ereigneten, als der Kreml Söldner und eigene Militärverbände in die Region entsandt hatte.[125][126]
Obwohl das Völkerrecht offenkundig keine Relevanz im Handeln der russischen Regierung hat, wird die Sprache des Völkerrechts genutzt, um sich zu rechtfertigen: So müssten in Putins Argumentation russische Landsleute im Donbass vor Gräuel und Völkermord geschützt werden. Das Konzept ist Bestandteil der russischen Militärdoktrin und basiert daher nicht auf Responsibility to Protect, sondern der russischen Verfassung. Der militärische Einsatz basiere auf Kooperationsvereinbarungen mit den zuvor durch Russland anerkannten Volksrepubliken, erfolge also im Einklang mit den dortigen Behörden. Weiter sei kollektive Selbstverteidigung der Volksrepubliken gegen einen Angriff durch die Ukraine erforderlich. Zudem werde Russland existentiell durch den Westen bedroht, vor allem durch die NATO-Osterweiterung. Daher ergebe sich ein Recht zur Selbstverteidigung. Diese Argumentation ist sachlich falsch und interpretiert ein Selbstverteidigungsrecht viel weitreichender als das Völkerrecht.[127]
Während Putins Kritik an unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben für völkerrechtsverletzende Handlungen der UN-Vetomächte grundsätzlich berechtigt erscheint, kann dies keinesfalls als Verharmlosung oder gar Legitimation des Angriffs dienen.[128] Die von Putin als „grundlos“ bezeichnete NATO-Intervention auf dem Balkan wird als Rechtfertigung für den russischen Angriff auf die Ukraine genutzt: Dies sei eine Manipulation der Geschichte, so der Tages-Anzeiger.[129] Auch russische Truppen waren während der Jugoslawienkriege auf dem Balkan präsent.[130] Putins Aussage zur „Ausdehnung des NATO-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands“ wurde wie weitere von der Deutschen Welle einem Faktencheck unterzogen, mit dem Ergebnis, sie sei „irreführend“. Zwar habe die NATO seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 14 osteuropäische Staaten aufgenommen und als Reaktion auf die Annexion der Krim 2014 logistische Vorbereitungen für eine Truppenverstärkung vorgenommen. Die zusätzlich in die Region entsandten NATO-Truppen (5000 Soldaten) seien aber viel zu schwach, um Russland (850.000 Soldaten) zu bedrohen.[131] Ferner sei die Begründung Putins falsch, es handele sich um einen Verteidigungsfall im Sinne der Charta der Vereinten Nationen (Kapitel VII, Artikel 51). Es sei kein Angriff durch die Ukraine zu erkennen. Im Gegenteil habe die Ukraine in den letzten Wochen alles getan, um Russland keinen Vorwand für eine Selbstverteidigung zu liefern, so Pia Fuhrhop (Stiftung Wissenschaft und Politik). Auch gebe es keinerlei Hinweise für einen Genozid in der Ukraine, von dem Putin gesprochen hatte.[128][132] Schließlich sei es nur ein „Propaganda-Narrativ“ Putins, dass er die Ukraine „entnazifizieren“ müsse. Bei den Präsidentschaftswahlen habe ein jüdischer Kandidat gewonnen, und bei den letzten Parlamentswahlen 2019 habe die Einheitsfront der rechtsradikalen Parteien nur 2,15 Prozent erhalten. Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, nannte Putins Aussage „eine perfide Unterstellung“.[131]
Im Budapester Memorandum hatte Russland 1994 die Staatlichkeit und territoriale Integrität der Ukraine völkerrechtlich bindend anerkannt; im Gegenzug gab die Ukraine ihre aus Sowjetzeiten stammenden Nuklearwaffen ab.
Im Juli 2021 erschien jedoch der Aufsatz Putins Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern, demzufolge Russen und Ukrainer ein einziges Volk seien.[133] Dies wurde als Hinweis darauf gedeutet, dass Putin die Staatlichkeit der Ukraine nicht (mehr) anerkenne. In diese Richtung ging auch die Behauptung Putins, dass das ukrainische Staatsgebiet großteils aus „Schenkungen“ Russlands bestünde. Im russischen Staatsfernsehen erschien dazu eine Karte, auf der die entsprechenden Schenkungen der einzelnen russischen Herrscher eingezeichnet waren. Nur ein kleines Gebiet in der Mitte sähen Putin und der Kreml als Ukraine an, so fasste es Stern.de zusammen.[134]
Putins Aussage, die Ukraine sei „voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen“ worden,[135] wurde vom Faktencheck der Deutschen Welle bestritten. Putin hatte es außerdem als einen Fehler eingeschätzt, dass Lenin den ukrainischen Gebieten den Status einer Sowjetrepublik einräumte, was von dem Historiker Karl Schlögel als eine der „einfach lächerlichen“ Aussagen bezeichnet wurde.[136] Putins Aussage, die Ukraine habe „im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit“ gehabt,[135] nennt die Deutsche Welle „irreführend“. Dass der eigenständige ukrainische Nationalstaat von 1918 nicht lange existierte, lag am Einmarsch Sowjet-Russlands. Laut dem Historiker Guido Hausmann ist es richtig, dass das Gebiet der heutigen Ukraine früher oft zu anderen Staaten gehört habe. Dies gelte aber ähnlich auch für andere Staaten. Im Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine am 1. Dezember 1991 stimmten über 92 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit.[137] Der Historiker Joachim von Puttkamer verweist auf die „lange ukrainische Nationalbewegung“ und nennt die Behauptung, dass die Ukraine ein „Kunstprodukt der Bolschewiki“ sei, „absurd“.[137]
Als „zynische und tückische Lüge“ würden Holocaust-Überlebende die Kriegsbegründungen Putins bezeichnen und die verwendeten Begriffe „Völkermord“ und „Entnazifizierung“ lösten wie der Putinsche Überfall auf die Ukraine „Abscheu und Entsetzen aus“, so Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee.[138] Putins Worte missbrauchten die Überlebenden des Holocaust und die Menschen, die als sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Konzentrationslagern gelitten hätten oder als Soldaten der Roten Armee Auschwitz und andere Lager befreit hätten.[139]
David Harris, Geschäftsführer des American Jewish Committee, sagte, er sei zuversichtlich, dass Putins Nazi-Narrativ „nicht funktionieren wird“.[140] Der Rabbiner Yaakov Dov Bleich, der als Oberrabbiner der Ukraine gilt, kommentierte die Behauptung des russischen Präsidenten, man werde mit der Militäraktion die Ukraine „entnazifizieren“, mit den Worten: „Der Nazi, der entnazifiziert werden müsste, trägt den Namen Wladimir Putin.“[141] Das United States Holocaust Memorial Museum verurteilte Putins Legitimierung des Überfalls mit Verweis auf eine angeblich erforderliche „Entnazifizierung“.[142] „Das Museum steht an der Seite des ukrainischen Volkes, einschließlich der Tausenden von Holocaust-Überlebenden, die noch im Lande leben“, so der Vorsitzende des Museums, Stuart E. Eizenstat.[140]
Leider, so Philipp Ther, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas, habe das seit 2013 von Russland gepflanzte Narrativ damals einen erstaunlichen, für ihn gar „bestürzende[n] Erfolg“ gehabt.[143] Es sei zwar richtig, dass in der ukrainischen Nationalgarde das in früheren Jahren von Rechtsextremen dominierte Regiment Asow integriert ist, es gebe aber keine Beweise für eine weitreichende Unterstützung neonazistischer Ideen in der ukrainischen Regierung oder Bevölkerung;[140] der ukrainische Präsident Selenskyj ist selbst Jude und hat drei Großonkel im Holocaust verloren.[144] Bei der Parlamentswahl 2019 konnte das Wahlbündnis rechtsextremistischer Parteien mit 2,4 Prozent der Stimmen nicht einmal die Hälfte der notwendigen Zustimmung für die Fünf-Prozent-Hürde erreichen und nur in einem von 186 Wahlkreisen ein Direktmandat erringen; es stellt damit nur einen von 450 Abgeordneten des ukrainischen Parlaments.[145] Von den Präsidentschaftskandidaten der Ultranationalisten habe seit 2010 keiner mehr als 2 Prozent der Wählerstimmen erhalten.[146] Das österreichische Momentum Institut bestreitet nicht, dass es in der Ukraine Ultranationalisten gibt. Es sei aber unsinnig, zu unterstellen, alle Institutionen des Staates seien nationalsozialistisch durchsetzt. Zudem gebe es in Russland mindestens genauso viele Ultranationalisten wie in der Ukraine. Gegen diese habe Putin bisher nichts unternommen. Indem er selbst Nazimethoden anwende, verkehre er das Täter-Opfer-Verhältnis.[147] Auch der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland vertrat schon 2020 die Ansicht, dass zwar trotz notorisch schlechter Wahlergebnisse der Einfluss Rechtsextremer auf die ukrainische Gesellschaft nicht unterschätzt werden solle, es aber dennoch im Vergleich zu anderen postkommunistischen Staaten im Osten Europas überraschend wenige Antidemokraten gebe.[148] Yohanan Petrovksy-Shtern, ein gebürtiger Ukrainer und Professor für jüdische Geschichte an der Northwestern University, sagte, Putins Behauptung über die „Entnazifizierung widerspricht der elementaren Wahrheit“.[140] Auf prorussischer Seite kämpfen gleichfalls organisierte Rechtsextreme, ihre militärische Bedeutung für den Konflikt im Donbass im Jahr 2014 wurde als deutlich stärker als die analoge Verwendung auf ukrainischer Seite eingeschätzt.[149]
Das Präsidialamt des französischen Staatspräsidenten Macron teilte am 3. März 2022 mit, dass Putin in einem Telefonat mit diesem sein Kriegsziel formuliert habe: die totale Unterwerfung der Ukraine. Es gebe keinerlei Anlass zur Hoffnung mehr, dass er etwas anderes als die vollständige Eroberung des ukrainischen Staatsgebietes zum Ziel habe. Putin sei in einem paranoiden Narrativ der „Entnazifizierung“ der Ukraine gefangen. Er habe geleugnet, dass die russische Armee zivile Ziele angreife. Er werde sich in jedem Fall holen, was er sich vorgenommen habe. Macron habe ihn offen mit seinen „Lügen“ konfrontiert und mit dem „hohen Preis“ gedroht, den Putin für den Angriffskrieg zahlen werde. Darauf habe Putin nicht reagiert.[150]
Die Bezeichnung „Entnazifizierung“ ist mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und insbesondere mit Deutschland in den Nachkriegsjahren verknüpft.[151][152] Der Begriff „Entnazifizierung“, der weltweit für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit steht, diene Putin als Vorwand, um den ukrainischen Staat und das ukrainische Nationalbewusstsein zu zerstören.[153] Im Narrativ von der Verteidigung „gegen blutige Verbrechen an Zivilisten, einschließlich Bürger der Russischen Föderation“ werden die vom Westen unterstützte Ukraine und die angeblich vertragsbrüchige NATO mit Nazi-Deutschland verglichen.[154]
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verpflichtete die Russische Föderation, militärische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen zu unterlassen.[155] Der Internationale Gerichtshof sprach auf Antrag der Ukraine gegen Russland die einstweilige Anordnung aus, die militärischen Operationen gegen die Ukraine sofort zu beenden.[156] Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eröffnete auf Antrag von 39 Mitgliedsländern des Römischen Statuts ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit möglichen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord auf dem Gebiet der Ukraine, betreffend den Zeitraum ab dem 21. November 2013.[157] Am 2. März 2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der historischen Mehrheit von 141 Stimmen eine Resolution, die den Einmarsch in die Ukraine als Aggression verurteilt und Russland unter anderem zum sofortigen Rückzug seiner Truppen auffordert.
UN-Generalsekretär António Guterres nannte den Krieg „eine der größten Herausforderungen für die internationale Ordnung und die globale Friedensarchitektur“ seit dem Zweiten Weltkrieg.[175] Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sah ein Scheitern im bisherigen „Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden“.[176] Insbesondere europäische Länder revidierten teils jahrzehntelange sicherheitspolitische Überzeugungen. Die Europäische Union griff das Konzept der EU-Eingreiftruppe wieder auf, Deutschland priorisierte im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft Rüstungsausgaben[177] und neutrale Staaten stellten ihren Status infrage.[178] Auch Länder außerhalb Europas wie Japan oder Australien forderten gemeinsame Anstrengungen und zeigten Bereitschaft, sich daran zu beteiligen.[179] Johannes Plagemann vom German Institute for Global and Area Studies weist allerdings darauf hin, dass „die große Mehrzahl der Staaten […] in Asien, Afrika und Lateinamerika“ den Konflikt als „europäisches Problem“ einschätzen, in den sie vor allem nicht involviert werden wollen.[180]
Der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler stellte fest, der Westen habe die Wirkung von Sanktionsdrohungen überschätzt. Wirtschaftliche Macht entfalte ihre Wirkung langsam, während militärische Macht in kürzester Zeit zerstören könne, was über Jahre aufgebaut wurde. Putins Kalkül sei offensichtlich gewesen, in einem raschen militärischen Schlag Fakten zu schaffen, um danach die Sanktionen des Westens auszusitzen; „nach einer kurzen Zeit missmutigen Grollens“ würde der Westen die geschaffenen Fakten akzeptieren. Die ukrainische Bevölkerung habe die russischen Truppen jedoch nicht als Befreier begrüßt.[181] Auch der russische Journalist Alexei Wenediktow bestätigte die Erwartung der Verantwortlichen dieser Invasion, „mit Blumen begrüßt zu werden“.[182] Die russische Journalistin Julija Leonidowna Latynina beschrieb, genau aufgrund Putins Sicht auf die Welt sei die „Sonderoperation“ geplant worden, die laute: Es gibt in der Ukraine ein Russland brüderlich liebendes Volk und es gibt Nazis, die mit Hilfe der Amerikaner die Macht ergriffen haben. Aufgrund dieser „Fakten“ sei der Einmarsch geplant worden, in der Erwartung, dass die Brüder die Befreier mit Blumen erwarteten. Der ganze Plan sei an zwei „unvorhergesehenen Hindernissen“ gescheitert, von denen eines das ukrainische Volk und das andere die ukrainische Armee sei.[183] Der Schweizer Historiker und Politikwissenschaftler Jeronim Perović meinte, Putin habe sich während der COVID-19-Pandemie isoliert und „zusehends radikalisiert“,[184] was auch der deutsche Politikwissenschaftler Dieter Ruloff so einschätzte: „Während dieser Krise sass er einsam im Kreml, umgeben einzig von ein paar Jasagern.“[185] Es sei tatsächlich „Putins Krieg“, weil davon auszugehen sei, dass kaum jemand anderer auf diese Entscheidung einen Einfluss hatte, so der Politikwissenschaftler Michael Staack.[186] Gegenüber der BBC hatte Andrej Kortunow, Generaldirektor des „Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten“ (RIAC), der sich für Internationale Zusammenarbeit einsetzt, angegeben, dass der russische Plan offenbar von einer zweiwöchigen Operation ausgegangen sei.[187] Der Krieg sei als Blitzkrieg geplant gewesen und diese Strategie gescheitert, so der Historiker Jörg Baberowski am 6. März 2022. Putin habe aus Gründen seines eigenen Machterhalts gar keine Alternative, als so lange weiter zu eskalieren, bis er Bedingungen stellen könne.[188][189]
Philipp Ther nannte es besorgniserregend, dass der Krieg mit unrealistischen Zielen begonnen wurde; „wie kommt man dann aus diesem Krieg wieder raus?“[143] Laut dem Historiker Andreas Rödder zerstört Putin diese „regelbasierte internationale Ordnung, die auf der Herrschaft des Rechts statt auf dem Recht des Stärkeren beruht“.[190] Der Journalist und Politikwissenschaftler Nikolas Busse hatte schon Ende 2021 in FAZ.net daran gezweifelt, dass Putin selbst an den Erfolg seiner wenig realistischen Forderung glaubte. „Die NATO-Staaten würden ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, wenn sie einem Dritten, noch dazu einem potentiellen Gegner, ein Vetorecht über den Beitritt zur Allianz und ihr militärisches Dispositiv zugestehen würden.“[191] Einen Tag vor dem Angriff erklärte der russische Historiker Nikita Petrow, dass es Putin nur um Machterhalt und die Manipulation des (eigenen) Volkes gehe.[192] Putin sei durch die schwache Haltung des Westens schon im Kaukasuskrieg 2008 ermutigt worden. Der Unwille zum Krieg sei im Westen so tief verankert, dass man in dieselbe Falle wie 1938 getappt sei, als die europäischen Mächte Adolf Hitler die Sudetengebiete überließen.[193] Münkler nannte den Angriff eine Zeitenwende: Vertrauen in eine regelgebundene und wertegestützte Weltordnung könnte fast nur mit der sehr unwahrscheinlichen Aburteilung Putins vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen des Führens eines Angriffskrieges wiederhergestellt werden.[181] Olivier Roy erklärte, dass Putin durch den Angriff auf die Ukraine seine gesamte über 20 Jahre aufgebaute Soft Power verloren habe, die bis dahin für seine Rolle in der Weltpolitik entscheidend gewesen sei.[194]
Die Nichtbeachtung des humanitären Völkerrechts verursachte humanitäre Katastrophen und löste die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus.[195][128][196] Mit Stand 20. März 2022 waren rund 10 Millionen Menschen vor dem Krieg geflohen, davon ein Drittel ins Ausland.[197]
Amnesty International beklagt, dass die russischen Truppen Streumunition gegen Zivilisten einsetzten. Am 25. Februar 2022 wurde die Stadt Ochtyrka mit Streumunition beschossen. Dabei wurden ein Krankenhaus und ein Kindergarten getroffen, wobei drei Zivilisten getötet wurden, darunter ein Kind.[198] Russland und die Ukraine sind dem Übereinkommen über Streumunition nicht beigetreten. Die USA warfen dem russischen Militär, im Widerspruch zu dessen bisherigen Behauptungen, im März zudem den Einsatz von ungelenkten Bomben vor.[199] Am 2. März brach im belagerten Mariupol, nachdem die Stadt beschossen worden war, die Versorgung mit Wasser, Heizung und Strom zusammen.[200] Vier Tage später war die Lage laut Ärzte ohne Grenzen für die Zivilbevölkerung in Mariupol katastrophal.[201][202][203] Ärzte ohne Grenzen gab am 13. März an, dass erstmals Tote aufgrund Medikamentenmangels zu beklagen seien.[204] Seit Beginn der russischen Invasion sind in Mariupol mit Stand zum 13. März nach Angaben des dortigen Stadtrats 2187 Einwohner ums Leben gekommen.[205]
Am 3. März einigten sich Russland und die Ukraine bei den Verhandlungen in Belarus nach Auskunft von Myhailo Podoliak, dem Chef des ukrainischen Präsidialamts, auf die Schaffung humanitärer Korridore für eingeschlossene Städte.[206] Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nahm am 3. März Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine auf.[200] Die russischen Truppen griffen nach Angaben des britischen Militärgeheimdienstes besiedelte Gebiete in Charkiw, Tschernihiw und Mariupol an. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte, es habe mehrere Angriffe auf Gesundheitszentren in der Ukraine gegeben.[201][202] Mit Stand 13. März sind seit Beginn der russischen Invasion nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministers Wiktor Ljaschko sieben Krankenhäuser zerstört und 100 weitere Gesundheitseinrichtungen beschädigt worden.[207]
Ärzte berichteten, dass sie infolge des Krieges Verletzungen behandeln, auf die sie sowohl mental als auch handwerklich kaum vorbereitet sind.[208] Diverse Traktoren, Waldtraktoren und sogar ein Feuerwehrauto in der Gefahrenzone von Tschernobyl wurden von Minen zerstört, mehrere Personen wurden dabei verletzt und getötet.[209]
In kleinen Dörfern im besetzten Süden der Ukraine wurden sofort allen Menschen die Telefone weggenommen, damit sie keine Fotos machen konnten, und dann wurden sie für Zwangsarbeit eingesetzt.[210]
Der Überfall führte zu einer großen Fluchtbewegung innerhalb der Ukraine. Die Menschen flüchteten zu den Grenzen und ins Ausland; schon Tausende hätten bis zum 25. Februar das Land verlassen. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) waren bis dahin bereits mehr als 100.000 Menschen betroffen. Sollte sich die Situation im Land weiter verschlechtern, könnten bis zu vier Millionen Ukrainer betroffen sein. Verschiedene Nachbarstaaten und weitere Staaten kündigten an, Flüchtlinge aufzunehmen.[211] Aus den Separatistengebieten im Osten seien bereits 110.000 Personen nach Russland geflohen, gab Außenminister Lawrow am 25. Februar an.[212]
Das UNHCR sprach am 27. Februar 2022 davon, dass 368.000 Menschen auf der Flucht seien.[213] Bis zum 28. Februar war die Anzahl der externen Flüchtlinge laut UNHCR auf 500.000 Menschen angewachsen.[214] Am 3. März waren es nach Schätzungen der UN über eine Million[215] und am 8. März wurde die Marke von zwei Millionen Menschen überschritten.[216] Drei Tage später, am 11. März 2022, waren es mehr als 2,5 Millionen.[217] Hatte das UNHRC noch am 15. März von 1,85 Millionen Binnenvertriebenen berichtet[218], gab es laut UNHCR am 18. März bereits 6,5 Millionen inländische Flüchtlinge in der Ukraine.[219]
UNICEF schätzte am 11. April 2022, dass mehr als 4,5 Millionen Menschen seit Beginn des Kriegs ins Ausland geflohen sind, davon rund 90 Prozent Frauen und Kinder. Weitere rund sieben Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge. Fast zwei Drittel aller 7,5 Millionen Kinder bis 18 Jahren sind geflohen, davon rund zwei Millionen ins Ausland und rund 2,8 Millionen innerhalb der Ukraine.[220]
In den Kriegstagen wurden in der Ukraine zehntausende Airbnb-Buchungen aus aller Welt registriert, durch die Geld an Ukrainer gespendet wurde.[221] Zielführende Hilfe ist auch im deutschsprachigen Raum[222][223] und insbesondere zu Gunsten von Frauen möglich.[224] Die Deutsche Bahn richtete Annahmestellen für Großspenden zum Transport in die Ukraine ein.[225] Im März 2022 wurde mit der Ukraine Air Rescue eine spendenfinanzierte Luftbrücke geschaffen, an der sich über 100 Piloten beteiligen.[226]
Es stellt sich zudem die Frage, inwieweit eine Beherbergung von Geflüchteten durchführbar ist.[227][228]
Um über eine „Schienenbrücke“ eine permanente Logistik von Containerzügen mit Hilfsgütern (die von Produzenten und Großhändlern eingesammelt werden) für die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu gewährleisten, verständigten sich die Bahnverkehrsbetriebe mehrerer europäischer Staaten auf eine Zusammenarbeit.[225][202]
Um die Versorgung mit Rundfunkmeldungen sicherzustellen, betreibt die Ukraine mehrere über das Land verteilte, teils nach dem russischen Einmarsch reaktivierte Mittelwellensender.[229][230] Mehrere ukrainische Rundfunkveranstalter haben sich zu einem Gemeinschaftsprogramm zusammengeschlossen, in dem sie jeweils einige Stunden Sendestrecke beitragen; es bietet Nachrichten und Informationen zum Überleben unter Kriegsbedingungen. Neben dem Satelliten- und terrestrischen Rundfunk werden auch Internet-Verbreitungswege, insbesondere Telegram, genutzt. Der Chef des Ukrainischen Rundfunks appellierte an die westlichen Kollegen, das ukrainische Radiosignal auf AM-Frequenzen aus ihren Ländern in die Ukraine zu senden.[231] Die britische BBC sendet ein englischsprachiges Kurzwellenprogramm gezielt in die Ukraine.[230] Der Polnische Rundfunk sendet auf Ukrainisch über Langwelle 225 kHz.[232][233] Auch der österreichische Auslandsrundfunk hat sein Programm ergänzt und sendet dreimal täglich deutschsprachige Nachrichten mit einer speziellen Kurzwellen-Richtantenne aus der Nähe von Wien in die Ukraine.[234][232] Der Anbieter Starlink spendete Satelliten-Internet-Zugangsausrüstung in die Ukraine.[235]
Russland erwartete basierend auf den Erfahrungen 2014 zunächst geringen Widerstand der Ukraine, so dass militärische Kräfte laut Michael Kofman „irrational“ eingesetzt oder eben nicht eingesetzt wurden. Die russische Militärorganisation sei zu optimistisch und nicht wirklich auf einen Krieg vorbereitet gewesen. Diese erste Phase scheiterte daher, so dass nach etwa fünf Tagen die Strategie geändert wurde.[236] In der Neuen Zürcher Zeitung analysierte Georg Häsler, dass Russland zu Beginn der Invasion entgegen seiner üblichen Vorgehensweise und Militärdoktrin auf Artillerievorbereitung weitgehend verzichtete und statt der üblichen „Feuerwalze“ auf einzelne, gezielte Schläge gegen militärische Ziele gesetzt hatte.[237] Damit seien laut The Guardian Fehler früherer Militäreinsätze wiederholt worden, und es sei auf ähnliche Art darauf reagiert worden: Nackte Gewalt durch wahllosen Artilleriebeschuss sollte die Verteidiger nun in die Knie zwingen.[238]
Schon Anfang März erkannte Daniel Gerlach im Vorgehen Russlands dasselbe „sowjetische Modell der Aufstandsbekämpfung“, das Russland in Syrien dem Diktator Assad empfohlen hatte und ab 2015 auch selbst durchführte: „Dazu gehört die gezielte Bombardierung ziviler Infrastruktur, etwa von Spitälern, Wasserwerken oder Bäckereien.“ Damit solle die Unterstützung der kämpfenden Truppen entzogen werden, respektive diese zur Übernahme solcher Aufgaben gezwungen werden.[239][240] Der Gegner solle erniedrigt werden, indem der Eindruck erweckt werde, er könne als Verteidiger seine Schutzbefohlenen nicht schützen. In Syrien habe Russland sogar versucht, über das Rote Kreuz die genauen Standorte der Spitäler zu erfahren.[241]
Die russischen Truppen suchten systematisch ehemalige Militärangehörige und politische Aktivisten und Journalisten[242] aufgrund von Listen.[243] Russland wolle die Ukraine aber auch als kulturelle Identität auslöschen, so Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR); wo eine Besatzung gelänge, würde dies über die Auslöschung der kulturellen, journalistischen und intellektuellen Eliten des Landes erfolgen, so wie es auch in den seit 2014 besetzten Gebieten geschehen sei.[244] In den Schulen in Cherson sollten nach einer einmonatigen Pause im Mai nur noch Lehrer unterrichten dürfen, die sich der Besatzug unterstellten. Zudem sollten sie auf der Krim umgeschult werden, alle anderen müssten das Gebiet verlassen.[210]
Der erfahrene Kriegsberichterstatter Jeremy Bowen erklärte, dass es oft Verstöße gegen die internationalen Gebräuche des Krieges gebe; die Frage sei aber, ob es sich um Einzelfälle handle oder ob es systematische Verletzungen seien – er sehe eher eine Systematik „von oben“.[245]
Eine solche „Direktive“ erkennt nicht nur der Soziologe Grigori Judin schon in der Begründung des Krieges und in der jahrelangen Propaganda; für russische Soldaten könnten alle Widerstand Leistenden als „Nazis“, in Russland Inbegriff für das absolut Böse, gesehen werden, es gehe weniger um Affekte,[246] sondern die Morde von Butscha seien auch eine Folge der Kriegsbegründung Russlands.[247] Dazu kämen die archaischen und entwürdigenden Traditionen innerhalb der russischen Armee, der sogenannten Dedowschtschina.
Russland verzichtete (Stand 29. März) auf Angriffe auf die Pipelines, die russisches Gas durch die Ukraine nach Mitteleuropa transportieren. Es wird deshalb vermutet, dass Russland es sich nicht leisten könne, auf die Einnahmen aus dem Gasexport zu verzichten.[248]
Teilweise ließen russische Militäreinheiten in von ihnen aufgesuchten bzw. besetzten ukrainischen Gebieten Sprengkörper (bspw. Landminen, in Gebäuden auch Sprengfallen) zurück. In der Folge entstandene Personenschäden sind dokumentiert.[249][250][251] Russland hat das im Jahr 1999 in Kraft getretene Ottawa-Abkommen, das Einsatz, Lagerung, Herstellung und Weitergabe von Antipersonenminen verbietet, nicht unterzeichnet.
Wie Luftaufnahmen belegen, begann die Russische Seekriegsflotte im Februar 2022 damit, im Hafen von Sewastopol, dem Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, trainierte Delfine, die Minen aufspüren können, einzusetzen.[252]
Der ukrainischen Regierung zufolge beschlagnahmen die russischen Streitkräfte in den von ihnen besetzten Regionen Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk das geerntete Getreide. Insgesamt seien mehrere Hunderttausend Tonnen Getreide abtransportiert worden.[253] Ein ukrainischer Landmaschinenhändler aus Melitopol gab an, dass sein gesamtes Warensortiment abtransportiert worden sei. Durch GPS-Tracking konnten einige der gestohlenen Maschinen später in Tschetschenien verortet werden.[254]
Am 9. und 17. März wurden insgesamt neun Generäle entlassen.[255][256] Außerdem verkündete das ukrainische Militär am 19. März den Tod des sechsten von schätzungsweise zwanzig in der Ukraine eingesetzten russischen Generälen.[257] Von russischer Seite wurde bisher lediglich der Tod des Generalmajors Andrei Suchowezki bestätigt.[258] Laut Pentagon ist der Tod von Führungskräften ein Schlag für die Kampfmoral der russischen Truppen. Es wurde darauf hingewiesen, dass es russische Militärtradition sei, die Angriffe von der Front aus zu führen; dies könne aber auch ein Anzeichen für politischen Druck sein, Ergebnisse zu erbringen.[259][260]
Nachdem die Beteiligung von Wehrpflichtigen an den Kriegshandlungen bekannt geworden war, ließ der Kreml verlauten, dass die dafür verantwortlichen Beamten bestraft würden, weil Präsident Putin vor dem Einmarsch die Anweisung erteilt habe, deren Beteiligung auszuschließen.[261] Ausgelöst wurde der Rückruf aller Wehrpflichtigen aus der Ukraine durch bekanntgewordene Gefangennahmen.[262] Vor der Invasion wurden Wehrpflichtige offenbar genötigt, Verträge zu unterschreiben, laut denen sie in ein Kampfgebiet geschickt werden können – was sonst nur für Berufssoldaten gilt. Einige Gefangene berichteten, ihre Vorgesetzten hätten versichert, es handele sich lediglich um eine Militärübung.[263]
Laut Pentagon-Angaben sabotierten russische Soldaten eigene Ausrüstung, um nicht an der Front eingesetzt zu werden.[264] Andere hätten nach ihrer Gefangennahme angegeben, geglaubt zu haben, dass sie als Friedenstruppen eingesetzt würden.[265]
Die in Butscha eingesetzten Soldaten stammen zum großen Teil aus den südlichsten und östlichsten Teilen der Militärbezirke Zentral (Generalmajor Rustam Minnekajew) und Ost, aus ländlichen, teils weit abgelegen Regionen im Süden Russlands und entlang der Transsibirischen Eisenbahn bis in den Fernen Osten. Viele von ihnen kommen aus ärmlichen Landesteilen, beispielsweise Dagestan, teils Tausende Kilometer von der Ukraine entfernt und kaum aus urbanen Zentren wie Sankt Petersburg oder Moskau.[266] Laut dem ukrainischen Geheimdienst war in Butscha bis zum 31. März vor allem die 64. motorisierte Schützenbrigade aus Chabarowsk im Einsatz.[267]
Nach Aussagen von US-Regierungsvertretern würden russische Hightech-Waffensysteme wie präzisionsgelenkte Raketen Ausfallquoten von bis zu 60 Prozent aufweisen.[268] Nach US-Angaben feuerte Russland im ersten Kriegsmonat rund 1100 Raketen auf ukrainische Ziele ab.[269]
Im Russisch-Ukrainischen Krieg ab 2014 wurden vielfach Kriegsverbrechen begangen, insbesondere von russischer Seite nach dem Stocken des russischen Überfalls vom 24. Februar 2022; auch von ukrainischer Seite wurden vereinzelt Kriegsverbrechen gemeldet.
Insbesondere westliche Länder reagierten mit Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine und parallel mit Maßnahmen, die die Ausbreitung des Konflikts verhindern sollen.[270][271][272]
Bundeskanzler Scholz schloss ein unmittelbares militärisches Eingreifen der NATO in der Ukraine Anfang März 2022 aus,[273] insbesondere die von Präsident Selenskyj geforderte Errichtung einer Flugverbotszone.[274]
Nach dem Manöver von Russland und Belarus kündigte Lettland an, der Ukraine Panzer- und Flugabwehrraketen zu schicken.
Am 26. Februar entschied Deutschland, Waffen (1000 Panzerabwehrwaffen des Typs Panzerfaust 3 sowie 500 MANPADS vom Typ FIM-92 Stinger) aus Beständen der Bundeswehr an die Ukraine zu liefern. Ferner sollen 14 gepanzerte Fahrzeuge für Personenschutz und bis zu 10.000 Tonnen Treibstoff aus Deutschland in die Ukraine gehen. Zudem genehmigte Deutschland die Lieferung von 400 Panzerfäusten Typ 3 aus deutscher Produktion durch die Niederlande und neun Haubitzen Modell D-30 aus Estland.[275] Zuvor hatte die Bundesregierung darauf beharrt, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, obwohl sie dafür international kritisierte wurde.[276] Am selben Tag stellten die USA insgesamt 350 Millionen Dollar „zur sofortigen Unterstützung der Verteidigung der Ukraine“ zur Verfügung.[44] Am 2. März kündigte die Bundesregierung an, 2700 Flugabwehrraketen vom Typ 9K32 Strela-2 aus ehemaligen NVA-Beständen an die Ukraine zu liefern, wovon sich allerdings gut ein Viertel als unbrauchbar herausstellten.[277][278]
An der NATO Enhanced Forward Presence Battlegroup teilnehmende Staaten verstärkten im Februar 2022 ihre Kontingente.[279][280][281]
US-Präsident Biden kündigte am 24. Februar an, dass weitere Luft- und Bodentruppen zur Ostflanke der NATO geschickt werden. Er wiederholte, dass US-Truppen sich nicht direkt am Konflikt in der Ukraine beteiligen werden. Sie seien in Osteuropa, um die NATO-Verbündeten zu verteidigen.[282]
Am selben Tag wurden von der NATO aus Sorge vor einer Ausbreitung des Konflikts auf Bündnispartner vorhandene Verteidigungspläne für Osteuropa aktiviert und demgemäß Truppenteile in Bereitschaft versetzt.[283][284] Am 25. Februar wurde die NATO Response Force durch den Supreme Allied Commander Europe Tod D. Wolters zum ersten Mal in ihrer Geschichte aktiviert. Die aus Land-, Luft- und Seeeinheiten bestehende Truppe soll die Ostflanke des NATO-Bündnisgebiets schützen und verstärken. Den Beschluss dazu hatten die Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten am Morgen gefasst.[285]
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verlegten die USA bis zum 7. März ca. 7000 weitere Soldaten nach Europa und verstärkten damit die US-Truppen in Europa auf rund 100.000 Soldaten.[286] In der zweiten Märzwoche verlegten die USA auf Bitten Polens zwei Patriot-Flugabwehrraketensysteme nach Polen.[281] Am 10. März 2022 begann in Norwegen die lange vor Kriegsbeginn geplante NATO-Übung Cold Response, an der 30.000 Soldaten teilnehmen. Das Angebot der NATO an Russland, einen Beobachter zu der Übung zu schicken, lehnte Russland dankend ab.[287] Mitte März verlegte Deutschland mindestens ein Patriot-Raketenabwehrsystem in die Slowakei,[288] während das Vereinigte Königreich sich zur Verlegung eines Luftverteidigungssystems des Typs Sky Sabre nach Polen entschloss.[289] Auf einem NATO-Gipfel am 24. März verständigten sich die NATO-Mitglieder auf die Entsendung und Stationierung vier zusätzlicher „Battlegroups“ in die Slowakei, nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien.[290] Aus Sorge vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Russland wurden zudem ABC-Abwehrmaßnahmen aktiviert.[291]
Die Europäische Union kündigte am 24. Februar ein „scharfes Sanktionspaket“ gegen Russland an. Man werde russische Vermögen in der EU einfrieren. Russische Banken sollten keinen Zugang mehr zu den Finanzmärkten haben.[292] Flugzeugteile, Halbleiter und Güter für die Energiewirtschaft werden nicht mehr nach Russland verkauft.[293] In der Folge wurden mehrere russische Banken aus dem Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen.[294] Russische Energielieferungen sind davon aus Gründen der Energiesicherheit und befürchteter wirtschaftlich-gesellschaftlicher Auswirkungen zunächst nicht betroffen,[295] werden aber zumindest perspektivisch gefordert.[296] Außerdem gaben die USA die Gründung einer transatlantischen Arbeitsgruppe, die die Vermögenswerte der sanktionierten russischen Unternehmen und Oligarchen aufspüren und einfrieren soll, bekannt.[297] Des Weiteren sollen zusätzlich Sanktionen gegen die russische Zentralbank erfolgen.[298] Am 25. und 26. Februar sperrten mehrere europäische Staaten, darunter das Vereinigte Königreich, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Rumänien und Bulgarien, ihren Luftraum für russische Flugzeuge.[299] Ab der Nacht zum 28. Februar war der Luftraum EU-weit für russische Luftfahrzeuge gesperrt. Die Sanktionen treffen nicht nur die in den Sanktionen genannten Warengruppen. Weltweit nahmen mehrere Transporteure keine Buchungen mehr nach Russland an und stornierten bestehende Buchungen.[300] Bei Maersk werden nur noch Lebensmittel, medizinische und humanitäre Lieferungen transportiert.[301]
Nach den Sanktionen vom 25. bis 28. Februar wurden am 2. März, 15. März, 24. März, 6. April und 8. April 2022 von EU und USA weitere Sanktionspakete verkündet.
Die Washington Post berichtete, dass ukrainische Beamte mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware des US-Technologieunternehmens Clearview AI über 8.600 getötete russische Soldaten per Gesichtserkennung untersucht haben. Die Scans dienten teilweise der Identifizierung von Leichen und der Kontaktaufnahme mit Familienangehörigen in Russland. Bis Mitte April 2022 konnten die Familien von 582 Russen informiert werden. Ziele der Maßnahme sind, innerhalb Russlands aufzuklären, Soldaten zu entmutigen und ein Ende des Kriegs zu beschleunigen.[302]
Seit dem russischen Überfall am 24. Februar gilt der Cyberraum bei derzeitigem Stand der Kriegsführung zwar nur als Nebenschauplatz, ist aber Teil des Hybridkriegs im Russland-Ukraine-Krieg.[303]
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gilt als ein „Hauptziel für russische Aggressionen“.[304] Ein Angebot der USA, den Präsidenten aus Kiew zu evakuieren, lehnte dieser ab: Er brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.[305]
Am 28. Februar unterzeichnete Selenskyj einen Beitrittsantrag seines Landes zur Europäischen Union.[306] Am 1. März hielten Selenskyj und der Präsident der Werchowna Rada, Ruslan Stefantschuk, eine per Video übertragene Rede von Kiew aus an das Europäische Parlament, in der sie weitere Unterstützung forderten.[307]
In der ersten Kriegswoche bat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba seinen chinesischen Amtskollegen Wang Yi um diplomatische Vermittlung im Konflikt. Die Volksrepublik China signalisierte daraufhin eine grundsätzliche Bereitschaft.[308]
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock meinte am 23. Februar 2022, Putin habe das Gegenteil von dem gesagt, was er eine Woche zuvor behauptet hatte. Er habe das Minsker Abkommen einseitig „zertrümmert“. Russland solle nun seine Eskalationsschritte zurücknehmen.[309] Nach dem Einmarsch warf sie Putin „vollkommen entgrenztes Agieren“ vor. Nach den Treffen mit Putin und Lawrow in Moskau müsse nun gesagt werden: „Wir wurden eiskalt belogen. Der Kanzler wurde belogen, ich vom russischen Außenminister, die gesamte internationale Gemeinschaft.“[310] Bei einer Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“[311]
Bis zur Invasion hatte Deutschland eine nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführte Politik verfolgt, an kriegführende Staaten keine todbringende Militärtechnik zu liefern. Als Reaktion auf die Invasion beendete Deutschland diese Politik – es lieferte Waffen an die Ukraine und erlaubte Drittstaaten, deutsche Waffen dorthin zu liefern. Der russische Überfall auf die Ukraine führte zu weiteren bedeutenden Positionswechseln, die zuvor lange von anderen Staaten gefordert worden waren, ohne dass Deutschland darauf einging: So stoppte Deutschland das Projekt Nord Stream 2 und gab bekannt, seine Militärausgaben auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Mit der Erhöhung des Verteidigungshaushalts kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz die Schaffung eines Sondervermögens für die Bundeswehr in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro an.[312][313]
Der bisherige außenpolitische Ansatz der Wirtschaftskooperation, zivilgesellschaftlicher Beziehungen sowie des politischen Dialogs mit Russland galt nun als gescheitert, so dass eine Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik erfolgte.[314]
Die G7 zeigten sich geschlossen und verurteilten die russische Invasion als „eine schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts und einen schweren Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen“. Alle Mitglieder erklärten Wirtschafts- und Finanzsanktionen zu verhängen.[315]
US-Präsident Biden nannte Russlands Vorgehen einen „unprovozierten und ungerechtfertigten Angriff durch die russischen Streitkräfte […] Die Welt wird Russland zur Rechenschaft ziehen.“ Er versprach der Ukraine Unterstützung. In der Folge des Geschehens in der Ukraine wiesen die USA am 28. Februar zwölf Diplomaten der russischen Botschaft aus. Die als Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten bezeichneten Botschaftsmitarbeiter müssen das Land binnen einer Woche verlassen.[316]
Auch NATO-Staaten, die engere Beziehungen mit Russland pflegen, verurteilten den russischen Überfall, darunter die Türkei und Ungarn.[317][318] Der für seine Russlandnähe bekannte tschechische Präsident Miloš Zeman verurteilte die „unprovozierte Aggression“ Russlands gegen die Ukraine, sprach sich für Sanktionen anstatt nur Worte aus und fügte mit Blick auf Wladimir Putin an: „Der Verrückte muss isoliert werden“.[319]
Die Schweiz verurteilte die russische Aggression nicht nur diplomatisch, sondern zusätzlich mit einer Erklärung beider Parlamentskammern.[320] In einem in diesem Umfang einmaligen Schritt schloss sie sich den EU-Sanktionen an, der Bundespräsident erklärte: «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral.»[321]
China erklärte zunächst Verständnis für Russland und dessen „Sicherheitsbedenken“. Laut Tagesschau befürchtet China, dass Sanktionen gegen Russland zu steigenden Rohstoffpreisen führen. Außerdem sei die Ukraine ein wichtiges Transitland für Chinas neue Seidenstraße, ein System von Landwegen in Richtung Westen.[322] Am 26. Februar sagte der chinesische UNO-Botschafter Zhang im Sicherheitsrat, der Konflikt sei an einem Punkt angelangt, den man nicht sehen wolle. Die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten müssten respektiert werden.[323] Diese allgemeine Formulierung geht allerdings – laut Angela Stanzel absichtlich – nicht auf den Einzelfall der Ukraine ein.[324] Am 7. März erklärte der chinesische Außenminister Wang Yi, dass China und Russland „ihre strategische Entschlossenheit aufrechterhalten und die umfassende kooperative Partnerschaft in der neuen Ära vorantreiben“.[325] China bezeichnete seine Position auch als „neutral“ und unterstützte Friedensaufrufe.[326][327] Außerdem verwahrte sich China gegenüber Druck von außen und bewertete die eigene Position als eigenständig, objektiv und fair.[328] Nach Angela Stanzel orientierte sich die chinesische Rhetorik allerdings an russischen Narrativen; eine Verurteilung des Krieges erfolgte nur äußerst zurückhaltend.[324] Zudem werden in den sozialen Medien Kommentare, die sich mit den ukrainischen Positionen solidarisieren, zensiert, während russlandfreundliche Kommentare von den Zensoren unbehelligt bleiben.[329]
Russlands Ukraine-Krieg hat mit zunehmender Dauer immer stärkere globale Folgen – darunter Hunger und Destabilisierung in Weltteilen, in denen China wirtschaftliche Expansion sucht oder geopolitische Projekte verfolgt.[330]
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić erklärte, dass das Land die territoriale Integrität der Ukraine unterstütze, man sich westlichen Sanktionen gegen Russland jedoch nicht anschließen werde.[331]
Kuba warb für eine diplomatische Lösung im Konflikt, gibt aber an der Invasion eindeutig dem Westen und der NATO die Schuld, die Russlands Sicherheit gefährdeten. Bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung zur Verurteilung der Invasion enthielt Kuba sich der Stimme. Tage zuvor hatte Russland die Stundung von Kubas Auslandsschulden angekündigt.[332] Kritiker fragen sich jedoch, wie Kubas Haltung mit seiner sonstigen Rhetorik gegen Imperialismus und das durch die Monroe-Doktrin zum Ausdruck gebrachte Hegemonie-Bestreben der USA im eigenen Hinterhof zusammenpasst, wovon es sich selbst bedroht fühlt.[333]
Nachdem Kasachstan zuvor bereits die Anerkennung der Souveränität der Volksrepubliken Lugansk und Donezk abgelehnt hatte, verweigerte die kasachische Regierung am 25. Februar Russland auch die Entsendung eigener Soldaten in die Ukraine, obwohl russische Truppen im Rahmen der OVKS im Januar dabei geholfen hatten, Proteste in Kasachstan zu bekämpfen.[334]
Japan – als G7-Mitglied – setzte wie angekündigt Sanktionen um. Für Halbleiter wurde eine Ausfuhrbeschränkung eingeführt, russische Vermögen eingefroren und bestimmte russische Bürger erhalten kein Visum mehr. Auch Südkorea schloss sich den Sanktionen an.[335]
Indiens Regierung hielt sich bedeckt. Premierminister Narendra Modi erklärte nur: „Die Welt erlebt derzeit eine Zeit des Aufruhrs, und Indien muss in solchen Zeiten nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit stärker sein.“ Indien bezieht einen Großteil seiner Waffen aus Russland.[336]
Pakistans Premierminister Imran Khan drückte bei seinem Treffen mit Putin am 25. Februar sein „Bedauern“ darüber aus, dass ein militärischer Konflikt nicht abgewendet werden konnte.[337]
Indonesien und Singapur verurteilten die russische Gewalt,[338] ebenso Brasilien,[339] Kenia, Ghana und Gabun.[340]
Der Premierminister von Georgien – der als enger Verbündeter der Ukraine gilt – verurteilte den Angriff, verzichtete allerdings auf das Erlassen von Sanktionen gegen Russland,[341] woraufhin tausende Georgier für seinen Rücktritt demonstrierten.[342][343]
Naledi Pandor, die Außenministerin Südafrikas, eines Mitglieds der BRICS-Staatengruppe, rief die Konfliktparteien dazu auf, ihre Verpflichtungen nach Maßgaben des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts zu erfüllen, also die Einhaltung der Menschenrechte zu wahren und diese zu schützen. Sie erklärte am 24. Februar 2022: „Südafrika fordert Russland auf, seine Streitkräfte unverzüglich aus der Ukraine abzuziehen, im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, die alle Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, ihre internationalen Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln so beizulegen, dass der internationale Frieden und die Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“[344][345] Einen Tag später äußerte sich Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa: „Jetzt müssen sich die Parteien zusammensetzen, damit wir diesen Konflikt, der sich zu einem gewalttätigen entwickelt, beenden können.“ Er hofft auf eine Vermittlung durch den UN-Sicherheitsrat.[346]
Afrika droht durch den Konflikt eine Steigerung der Treibstoff- und Brotpreise. Kenia fürchtet um seine Tee-Exporte nach Russland.[340] Die Regierung Nigerias erklärte, dass ihre Bürger in der Ukraine selbst für ihre Sicherheit verantwortlich seien. Über 4000 Nigerianer studieren derzeit in der Ukraine und bilden damit die fünftgrößte Gruppe von Ausländern in dem Staat. Der nigerianische Botschafter in der Ukraine war zu dem Zeitpunkt bereits aus dem Land geflohen.[347] In der Ukraine leben außerdem 8000 Studenten aus Marokko, 3500 aus Ägypten und über 1000 aus Ghana.[340]
Israel hatte im Vorfeld gute Beziehungen sowohl zur Ukraine als auch zu Russland; Israels Regierungschef Bennett unternahm daher zunächst Vermittlungsbemühungen.[348] Beim Werben um stärkere Parteinahme und zur Lieferung von Raketenabwehr vor dem israelischen Parlament verglich Selenskyj Israels Bedrohung durch seine Nachbarn mit der Lage der Ukraine.[349] Eine Anlehnung des ukrainischen Präsidenten an den Zweiten Weltkrieg[350] – er hatte auf das erklärte Ziel Russlands der Vernichtung der Ukraine hingewiesen und darauf, dass in Russland dieselben Formulierungen zur Auslöschung gebraucht würden, wie sie von den Nazis verwendet worden waren – stieß teils auf Kritik.[351][352] Israel beteiligt sich bislang nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland.[353]
Im UN-Sicherheitsrat scheiterte am 25. Februar 2022 eine Resolution, in der der russische Einmarsch in die Ukraine kritisiert wurde, am Veto Russlands. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich, während die anderen elf Mitglieder dafür stimmten.[354] Die Resolution war zuvor abgeschwächt worden, um noch mehr Gegenstimmen vorzubeugen. So wurde beispielsweise das Wort „verurteilen“ durch „bedauern“ ersetzt.[355][356]
Dafür | Dagegen | Enthaltung |
---|---|---|
Albanien Brasilien Frankreich Gabun Ghana Irland Kenia Mexiko Norwegen Vereinigtes Königreich Vereinigte Staaten |
Russland (Vorsitz) | Volksrepublik China Indien Vereinigte Arabische Emirate |
Am Sonntag, den 27. Februar 2022, trat der UN-Sicherheitsrat erneut zusammen, um über eine Verweisung des Themas an die UN-Generalversammlung abzustimmen. In der Abstimmung votierten elf Staaten mit „Ja“, drei (Indien, VR China, Vereinigte Arabische Emirate) enthielten sich und Russland votierte dagegen. Nötig war eine Mehrheit von neun Stimmen. Es wurde erwartet, dass die am 28. Februar 2022 beginnende Dringlichkeitssitzung der Generalversammlung, erst die elfte seit Bestehen der UNO, mehrere Tage lang beraten wird.[357] Am 28. Februar 2022 brachten mehr als 90 Staaten, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz, einen Entwurf zur Beschlussfassung in die Vollversammlung der Vereinten Nationen ein. In dem Entwurf wurde die russische Invasion der Ukraine verurteilt und festgestellt, dass eventuelle territoriale Änderungen infolge der Invasion nicht anerkannt würden. Ebenso wurden die Angriffe der russischen Streitkräfte auf zivile Ziele in der Ukraine und die erhöhte Einsatzbereitschaft der russischen Nuklearstreitkräfte verurteilt.[358] In der Abstimmung am 2. März 2022 stimmten 141 Mitglieder der UNO für den Resolutionsentwurf ES-11/1. 35 Staaten enthielten sich, 5 stimmten gegen die Resolution: Russland, Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea. 12 Staaten, die meisten davon aus Afrika, nahmen nicht an der Abstimmung teil.[359] Die nicht völkerrechtlich bindende Resolution, für deren Annahme eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen notwendig war, „fordert, dass die Russische Föderation unverzüglich ihre Gewaltanwendung gegen die Ukraine einstellt und von jeder weiteren rechtswidrigen Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen einen Mitgliedstaat absieht“.[360][361]
Weil Russlands Außenminister Lawrow aufgrund der EU-Luftraumsperren für russische Flugzeuge am 1. März 2022 nicht persönlich vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf sprechen konnte, wurde seine Ansprache per Video übertragen. Mehr als 140 Diplomaten boykottierten diese Rede durch das Verlassen des Sitzungssaals.[362] Nur Vertreter einiger weniger Staaten, darunter Jemen, Syrien, Venezuela und Tunesien, blieben im Saal.[363]
Russland wurde damit wie nie zuvor in der UNO global isoliert.[128] Gleichwohl wurde Deutschland bei diplomatischen Vorbereitungen der Generalversammlung mitunter Doppelmoral beispielsweise im Hinblick auf andere Militärinterventionen vorgehalten.[364]
Am 7. April 2022 entschieden die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (Generalversammlung), Russlands Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat zu suspendieren. 93 Mitglieder stimmten dafür, 24 dagegen, 58 enthielten sich.[365]
Der Europarat – in dem Russland seit 1996 Mitglied war – setzte die russische Vertretung im Ministerrat und in der Parlamentarischen Versammlung am 25. Februar 2022 aus. Der von Russland entsandte Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bleibt hingegen im Amt.[366][367] Am 15. März erklärte Russland seinen Austritt aus dem Europarat, am Folgetag schloss das Ministerkomitee des Europarats Russland endgültig aus.[368]
Bereits am 16. Dezember 2021 hatte das EU-Parlament u. a. den großangelegten Aufmarsch russischer Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine verurteilt und sämtliche diesbezüglichen Rechtfertigungen Russlands zurückgewiesen.[369]
In seiner Entschließung vom 1. März 2022 zu Russlands Aggression gegen die Ukraine[370] verurteilte das Europäische Parlament den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine auf das Schärfste und forderte die Organe der EU auf, darauf hinzuwirken, dass die Ukraine den Status eines EU-Bewerberlandes erhält. Weiterhin begrüßten die Abgeordneten, dass die EU rasch Sanktionen ergriffen hatte, und befanden darüber hinaus, dass einige davon auch für Belarus gelten sollten. Befürwortet wurden u. a. auch eine schnellere Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine und eine engere nachrichtendienstliche Zusammenarbeit der EU mit der Ukraine.[371] Für die Entschließung stimmten 637 und dagegen 13 Abgeordnete, darunter die aus der Republik Lettland entsandte Tatjana Ždanoka (Die Grünen/Europäische Freie Allianz).[372]
Auf eine Staatenbeschwerde der Ukraine forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 1. März 2022 die russische Regierung auf, militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte wie Schulen und Krankenhäuser sowie medizinisches Hilfspersonal zu unterlassen.[373][374]
Am 3. März 2022 beschloss der Rat für Justiz und Inneres den „Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen“ nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG (Massenzustrom-Richtlinie) vom 20. Juli 2001,[375] die nun erstmals zur Anwendung kommt.[376][377] Die ukrainischen Flüchtlinge genießen danach vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten durch Gewährung eines entsprechenden Aufenthaltstitels.[378] Am 28. Februar 2022 hatte das Europäische Parlament in einem Entschließungsantrag die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, diesen Vorschlag zu billigen.[379]
Nach Beginn des Angriffskrieges schloss die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich die Zentralbank der Russischen Föderation am 10. März 2022 von allen Treffen und Dienstleistungen aus.[380]
Ab dem Tag des Überfalls gab es in zahlreichen Städten Russlands Protestkundgebungen, bei denen allein am ersten Tag mehr als 1700 Personen festgenommen wurden (davon 957 in Moskau).[381] Marina Owsjannikowa protestierte später in der Live-Hauptnachrichtensendung des russischen Fernsehsenders Erster Kanal.[382]
Infolge des Angriffskriegs wanderten laut einem am 10. März veröffentlichten Bericht des US-amerikanischen Senders NPR zwischen 100.000 und 200.000 Russen aus, darunter Wissenschaftler, Gründer und IT-Fachkräfte.[383] Allein nach Georgien sind nach Angaben des dortigen Innenministers im März 30.000 Russen ausgewandert bzw. geflohen.[384] Nach Armenien sind nach einer Schätzung des armenischen Wirtschaftsministers etwa 43.000 Russen ausgewandert.[385] Um diesen Brain Drain zu stoppen, hat Russland die Wehrpflicht für IT-Fachkräfte zeitweise ausgesetzt. Allgemein will der Kreml von April bis Juni 134.500 Männer zwischen 18 und 27 Jahren einberufen.[386]
Anders als die weltweiten Proteste, die sich gegen den russischen Einmarsch richteten, bekundeten etwa zehntausend Menschen in Serbiens Hauptstadt Belgrad am 4. März ihre Unterstützung für den russischen Einmarsch in die Ukraine.[387] Auch aus der Querdenker-Szene[388] und der Community der Russlanddeutschen gibt es teilweise Zustimmung.[389][390] Antiamerikanisch eingestellte Internetnutzer aus dem chinesischen und auch arabischen Raum verlautbarten ebenfalls prorussische Statements.[391][392]
In Deutschland ist die Unterstützung des russischen Einmarsches als Billigung eines Angriffskrieges nach § 140 Nr. 2 StGB i. V. mit § 138 Abs. 1 Nr. 5 StGB und § 13 VStGB strafbar. Die Strafbarkeit könnte schon dann vorliegen, wenn man ein „Z“ auf sein Auto klebt.[393]
Laut einer in Russland durchgeführten repräsentativen Umfrage des Lewada-Zentrums, des laut Spiegel „einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland“, sprachen sich 81 Prozent der Befragten „definitiv“ oder „eher“ für das „Vorgehen“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine aus. 14 Prozent lehnten eine Unterstützung ab, die übrigen 6 Prozent blieben unentschieden. Gaben 51 Prozent der Befragten „Stolz“ als dominierendes Gefühl in Bezug auf die „militärische Operation“ an, beschrieben es 12 Prozent für sich persönlich als „Schock“. In der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren lehnten 20 Prozent der Befragten das militärische Vorgehen Russlands ab, 71 Prozent stimmten ihm zu. In der höchsten Altersgruppe ab 55 Jahren befürworteten insgesamt 86 Prozent die „militärische Operation“. 42 Prozent aller Befragten glaubten, Russland habe seine „Sonderoperation“ gestartet, um die „russischsprachige Bevölkerung“ und „Zivilisten“ in der Ostukraine zu schützen. 25 Prozent der Befragten glaubten außerdem, so solle ein „Angriff auf Russland verhindert werden“.[394][395]
Papst Franziskus, Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, besuchte die russische Botschaft in Rom, um persönlich seine Besorgnis über die Lage in der Ukraine zum Ausdruck zu bringen,[396] was laut Dietman Winkler für den Botschafter „fast beschämend war“.[397] Anfang April kritisierte der Papst implizit Präsident Putin. „Wir waren im Glauben, dass Invasionen anderer Länder, Straßenkämpfe und atomare Drohungen düstere Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit seien.“[398]
Swjatoslaw Schewtschuk, Großerzbischof von Kiew-Halytsch und Oberhaupt der mit der römisch-katholischen Kirche unierten Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche, erklärte am 22. Februar 2022, einen Tag nachdem Putin die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk anerkannt hatte, dieser Schritt habe „grundlegende Prinzipien für einen langfristigen Prozess der Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine zerstört, den Weg für eine neue Welle der militärischen Aggression gegen unseren Staat bereitet und die Türen für eine großangelegte Militäroperation gegen das ukrainische Volk geöffnet. […] Die Verteidigung unseres Vaterlandes ist unser natürliches Recht und unsere Bürgerpflicht. […] Jetzt ist die Zeit gekommen, unsere Anstrengungen zu vereinen, um die Unabhängigkeit, die territoriale Integrität und die Souveränität des ukrainischen Staates zu verteidigen.“[399]
Der Patriarch Kyrill der russisch-orthodoxen Kirche – während der Sowjetzeit aktiver KGB-Offizier in der Kirche – äußerte am 23. Februar, einen Tag vor dem Überfall, dass er im Kriegsdienst eine Bekundung von „Nächstenliebe nach dem Evangelium“ erblicke und ein Beispiel der Treue zu den hohen sittlichen Idealen des Wahren und Guten. Er wünschte dem Präsidenten Seelenfrieden und Gottes Hilfe bei seinem „hohen Dienst am russischen Volk“. Einen Tag später (nach dem Beginn des Überfalls) sagte Kyrill in einer Ansprache, er habe „tiefes Mitgefühl“ mit all jenen, die vom Unglück getroffen wurden.[400] Laut Informationen der Nowaja Gaseta wusste Kyrill bei seiner Äußerung vom 23. Februar vermutlich schon vom geplanten Überfall.[401] Am Sonntag, dem 6. März, rechtfertigte Kyrill in seiner Predigt die Invasion damit, dass dadurch die gläubigen Ukrainer vor Gay-Pride-Paraden geschützt werden sollten, die ein „Verstoß gegen die Gesetze Gottes“ seien.[402]
In einem Telefonat mit Papst Franziskus rechtfertigte Kyrill in einem 20-Minütigen, vorgelesenen Monolog nochmals den Krieg und sprach beispielsweise über Flugzeiten von Raketen. Nachdem der Papst diese Episode in einem Interview erwähnte, war die ROK erbost, bestätigte aber "auf brillianteste Weise" selber den Sachverhalt, so ein Kommentar auf fontanka.ru. Dieser führte weiter aus, dass die ROK (in der Ukraine) nur überleben würde, wo Russische Panzer sie hin trügen.[403] Papst Franziskus seinerseits hatte gesagt „Ich habe ihm zugehört und dann gesagt: ‚Ich verstehe das alles nicht. Bruder, wir sind keine Beamten, wir sollen nicht die Sprache der Politik sprechen, sondern die Sprache Jesu.‘“ [404] Darauf folgte eine Bemerkung im Sinne von er sei doch nicht Putin's Ministrant.[403]
Die Russisch-Orthodoxe Altritualistische Kirche unterstützte die Invasion voll und ganz.[401]
Anders appellierte der dem Moskauer Patriarchat unterstellte Metropolit von Kiew und der Ukraine, Onufrij, den Bruderkrieg zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk unverzüglich zu beenden. Der Krieg zwischen beiden wiederhole die Sünde von Kain, der aus Neid seinen eigenen Bruder umbrachte. Dieser Krieg sei weder vor Gott noch vor den Menschen zu rechtfertigen. Seine Kirche verteidige die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine.[405]
Die Orthodoxe Kirche der Ukraine verurteilte die „unprovozierte russische Aggression“ und stellte Kirchenräume für Schutzbedürftige zur Verfügung. Metropolit Epiphanius erinnerte im Speziellen auch die Russisch-Orthodoxe Kirche daran, dass die Ukraine das Rote Kreuz um Hilfe gebeten hatte bei der Überführung der Leichen russischer Soldaten zu ihren Familien, Russland jedoch keine Antwort gegeben habe.[406]
Die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine bittet ihre Gemeindemitglieder, „[…] nicht [nur] für den Frieden zu beten, sondern für den gerechten Frieden, der als Ziel nicht nur die Vertreibung des Aggressors aus unsrem Land hat, sondern auch die gerechte Strafe für sein Verbrechen. Solange es aber nicht der Fall ist, fordern wir alle zum militärischen Dienst fähigen Menschen auf, sich an der Verteidigung unseres Landes zu beteiligen und alle anderen Ihnen und Menschen in Not zu helfen.“[407]
Der Mufti der geistlichen Führung der ukrainischen Muslime, Scheich Said Ismagilov, appellierte in einer Fatwa an die ukrainischen Muslime, den bewaffneten Kampf gegen den russischen Angriff zu unterstützen.[408]
Am ersten Tag der Invasion schlugen im Hinblick auf mögliche Versorgungsengpässe die Weltmarktpreise für Rohöl (bis zu 10 Prozent) und Getreide (bis zu 15 Prozent) nach oben aus. Nachdem die Preise tags darauf genauso wieder zurückgegangen waren,[409] legten sie nach dem Beschluss massiver Sanktionen weiter zu.[410] Schon im Vorfeld des Überfalls waren die Preise nach der russischen Anerkennung der Separatistengebiete und der angekündigten Entsendung russischer Truppen in diese Regionen deutlich gestiegen.[411]
Das für Europa maßgebliche Referenzöl Brent und das für den US-Markt relevante WTI erreichten eineinhalb Wochen nach Kriegsbeginn Preise wie zuletzt 2008. Der Benzinpreis in Deutschland überschritt am 8. März die 2-Euro-Marke und lag damit weit über dem bisherigen Rekordhoch von 1,72 Euro für den Liter Super aus dem Jahr 2008.[412][413]
Der für europäische Erdgaspreise bedeutende Dutch TTF Natural Gas Futures stand nach über 200 Euro pro MWh in der Woche nach dem Überfall mit über 100 Euro/MWh Anfang April 2022 noch deutlich über den Preisen von 80 Euro/MWh zu Jahresbeginn 2022 und weit über den 18 Euro/MWh von Anfang 2021.[414]
Die Ukraine und Russland sind der acht- bzw. der drittgrößte Weizenproduzent (Stand 2020[415]), insbesondere der viert- bzw. der zweitgrößte Weizenexporteur (für 2021/2022 prognostiziert[416]). Die großen Importregionen der Welt im Mittleren Osten, Nordafrika und Südostasien fürchten bei einem Stillstand des Getreidehandels in der Schwarzmeerregion um ihre Versorgung.[416] In den Tagen nach dem Angriff stiegen die Weltmarktpreise um über 50 Prozent, Anfang April 2022 bewegten sie sich auf einem um 20 Prozent (USA) bzw. 40 Prozent (Europa) höheren Niveau als vor dem Krieg.[417]
Aufgrund der massiven Finanzsanktionen des Westens fiel in den ersten zwei Wochen nach dem Angriff der russische Rubel zum US-Dollar auf 50–75 % des Wertes vor Kriegsbeginn – ein historischer Tiefststand.[418] Anfang April 2022 erreichte er mit knapp 80 Rubel pro Dollar wieder das Vorkriegsniveau. Als Gründe werden die Verdoppelung des Leitzinses auf 20 Prozent, Kapitalkontrollen und die verbesserte Handelsbilanz Russlands durch eingeschränkten Import bei weiterlaufenden Energieexporten genannt.[419] Die Inflation erreichte in Russland im März fast 17 Prozent.[420]
Deutsche Wirtschaftsunternehmen exportierten im März 2022 57,5 Prozent weniger als im März 2021 (1,1 Milliarden Euro nach ~2,6 Milliarden Euro im März 2021). Laut dem Statistischen Bundesamt lag die Russische Föderation im März nur noch auf Rang 12 der wichtigsten Bestimmungsländer für deutsche Exporte außerhalb der Europäischen Union (Drittstaaten). Im Februar 2022 hatte Russland noch Rang 5 belegt.[421]
Bereits im März 2014 beschrieb Andreas Umland die minutenlangen Hass-Salven der russischen Propaganda;[422] das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte schrieb im April, die Propaganda im Fernsehen Russlands hätte auch völkerrechtlich verbotene Hasspropaganda umfasst:
“Media monitors indicated a significant raise of propaganda on the television of the Russian Federation, which was building up in parallel to developments in and around Crimea. Cases of hate propaganda were also reported.”
„Medienmonitore ließen einen bedeutenden Anstieg von Propaganda im Fernsehen der Russischen Föderation erkennen, was sich parallel zu Entwicklungen in der und um die Krim aufbaute. Auch über Fälle von Hasspropaganda wurde berichtet.“[423]
Im Juni 2014 wurde vom UNHCHR nochmals und explizit auf das auch von Russland unterschriebene völkerrechtliche Verbot von Hass- und Kriegspropaganda hingewiesen.[424][425]
Die teils inszenierte[422] und Jahre anhaltende, vor dem Überfall der Ukraine nochmals intensivierte Kriegspropaganda diente auch zur Schürung von Hass innerhalb Russlands gegenüber oppositionell gesinnten Russen.[426] Stefan Meister sah darin auch eine „Rechtfertigungsgrundlage für militärische Gräueltaten“ auch gegen die Bevölkerung.[427] Desinformation wird von Russland auch eingesetzt, um Belege russischer Kriegsverbrechen zu untergraben.[428]
Russland bezeichnete den Überfall vom Februar 2022 auf die Ukraine als „militärische Spezialoperation“. Den russischen Medien wurde die Verwendung des Wortes „Krieg“ und ähnlicher Bezeichnungen schon vor dem umfassenden Zensurgesetz vom 4. März durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten. Die einzige verbliebene kritische Zeitschrift Russlands, die Nowaja Gaseta (Ende März eingestellt),[429] untersuchte folglich den Begriff „militärische Spezialoperation“ und kam zum Schluss, dass der Begriff eine Aktion definiere, die nicht länger als zwei Wochen dauere.[430] Am 10. März beteuerte Lawrow in der russischen Propaganda, es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben.[431]
Russland versuchte das propagandistische Narrativ der Denazifizierung der Ukraine auch durch eine seiner Auslandsvertretungen im Internet zu verbreiten.[432] Für die Narrative der Propaganda wurde der Begriff des Raschismus verwendet, um die faschistischen Methoden des angeblichen russischen Antifaschismus zu erklären.[433]
An russische Schulen wurden Unterrichtsmaterialien geliefert, die ab dem 1. März 2022 für spezielle „Sozialkunde-Lektionen“ zum Thema Krieg eingesetzt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt in den vorgegebenen Lehrertexten auch auf der Betonung der Verwerflichkeit von Antikriegs-Aktionen. Die Lehrer sollen den höheren Klassen die Argumente Putins vermitteln; es werden auch Antwortvorschläge für Schülerfragen gemacht: So soll die Frage, ob der Krieg nicht hätte vermieden werden können, dahingehend beantwortet werden, dass es kein Krieg sei, sondern eine Friedensmission zur Abschreckung von Unterdrückern.[434][435] Im Bildungssystem in Russland herrschen nach einer relativ liberalen Phase zu Beginn der nachsowjetischen Ära schon seit Mitte der 2010er-Jahre wieder politische Kontrolle und Einschüchterung. Für die auf Listen geführten nicht linientreuen Schul- oder Studienabgänger sind zumindest Anstellungen beim Staat kaum möglich.
Auf Antrag Russlands kam es am 11. März zu einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats: Der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja behauptete dort, ohne Beweise vorzulegen, die Ukraine betreibe ein Netz von 30 Laboren, die »sehr gefährliche biologische Experimente« mit dem Ziel durchführen würden, »virale Krankheitserreger« von Fledermäusen auf den Menschen zu übertragen. Dabei gehe es unter anderem um Pest, Cholera und Milzbrand. Während China die Anschuldigungen als relevant bewertet und auf Überprüfung drängt, wurden sie von westlichen Ländern als Desinformation und mögliche Vorbereitung einer Falsche-Flagge-Operation scharf verurteilt. Auch das Büro der Vereinten Nationen für Abrüstungsfragen berichtete, dass keine Hinweise auf Biowaffenprogramme in der Ukraine vorliegen.[436][437] Laut Foreign Policy handelte es sich bei diesem Vorwurf um eine Verschwörungstheorie, die wenige Stunden nach Beginn der Invasion von einem Twitter-Konto aus dem QAnon-Umfeld aus verbreitet wurde und von russischen und chinesischen Staatsmedien übernommen wurde.[438] China greife das Thema gerne als Ablenkung auf, um nicht über den Krieg selbst sprechen zu müssen.[439] Gesichert ist, dass die Weltgesundheitsorganisation der Ukraine empfahl, hochpathogene Krankheitserreger in ihren Laboren zu vernichten, um mögliche Ausbreitungen nach Angriffen zu verhindern[440] und die USA eigener Aussage zufolge daran arbeiteten, zu verhindern, „dass diese Forschungsmaterialien in die Hände der russischen Streitkräfte fallen.“[441]
Der Buchstabe „Z“ des lateinischen Alphabets (dessen Entsprechung im kyrillischen Alphabet anders aussieht) ist eines von mehreren Zeichen auf Militärfahrzeugen der Streitkräfte Russlands, die an dem russischen Überfall auf die Ukraine beteiligt sind. Das ursprünglich militärische Zeichen wird als Symbol der Unterstützung und zur Staatspropaganda für den Angriffskrieg auf das Nachbarland verwendet. Das Zeichen ist in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens Russlands „allgegenwärtig geworden“.[442][443][444]
Militärische Gewinne werden auf ukrainischer Seite überzeichnet[445] oder wie im Fall des Geistes von Kiew erfunden.
Im April stellte die ukrainische Post eine neue Briefmarke vor. Darauf zu sehen ist ein ukrainischer Soldat, der auf gelbem Untergrund stehend auf das in der perspektivischen Abbildung darüber liegende blaue Meer blickt und einem dort befindlichen russischen Kriegsschiff den „Stinkefinger“ zeigt.[446] Die Briefmarke zeigt damit einen Vorfall auf der Schlangeninsel, der sich zu Beginn des russischen Überfalls zugetragen hat.[447] Bereits in den Tagen nach dem Vorfall wurde dieser national und international, unter anderem in Form von Memes, auf Demonstrationsschildern, auf Werbeplakaten oder als Drohnenshow rezipiert.
In der Ukraine werden die russischen Truppen bzw. Soldaten unter anderem als Orks sowie als (übersetzt) Raschisten (aus den Wörtern Russia (englisch für „Russland“) und Faschist gebildeter Neologismus) bezeichnet.[448]
Die gekonnte Inszenierung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj auf den sozialen Medien hilft bei der Motivation zur Verteidigung und bei der Rekrutierung internationaler Unterstützung. Weltweites Aufsehen erregte auch der Aufruf der ukrainischen Band Antytila auf ihrem TikTok-Kanal, seit der britische Singer-Songwriter Ed Sheeran auf ihre Anfrage geantwortet hatte. Die drei Musiker, inzwischen als Soldaten im Einsatz, wollten von der Front aus per Videoschaltung am „Concert for Ukraine“ am 29. März in Birmingham teilnehmen und baten deshalb den britischen Superstar um Unterstützung. Die Organisatoren des Benefizkonzertes erteilten der Anfrage zwar eine Absage. Doch Sheeran meldete sich auf TikTok und dankte Antytila für ihre Nachricht.[449]
Die Europäische Kommission und die kanadische Regierung riefen am 26. März gemeinsam mit der NGO Global Citizen die breit angelegte Social-Media-Kampagne „Stand Up for Ukraine“ ins Leben. Die Kampagne geht auf den Hilfeaufruf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom selben Tag zurück. Viele internationale Topstars aus den Bereichen Kultur, Unterhaltung oder Sport nahmen am 8. April, dem Vortag der internationalen Geberkonferenz für die Ukraine-Flüchtlinge in Warschau, an der globalen Social-Media-Kampagne teil.[450]
Die Informationen zur Kriegslage können nicht immer unabhängig überprüft werden. Die meisten Informationen kommen aus dem Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte und gelten in der Regel als glaubwürdiger als jene, die das russische Militär herausgibt. Die amerikanische und die britische Regierung geben ebenfalls Informationen zur militärischen Lage heraus. Eine Reihe von Institutionen bereiten offen verfügbare Informationen vor allem aus den sozialen Medien auf. Zu nennen sind v. a. Bellingcat, Oryx, JominiWest (JominiW) sowie die sicherheitspolitischen Thinktanks Royal United Services Institute, International Institute for Strategic Studies, Atlantic Council und Institute for the Study of War (ISW). Beispielsweise bietet Oryx seit Kriegsbeginn eine ständig aktualisierte Verlustliste von schweren Ausrüstungsgegenständen der Kriegsparteien. Open Source Intelligence (OSINT) ist in diesem Krieg zu einer wichtigen Informationsquelle für die Lageanalyse geworden.[451]
Russische Internetnutzer bereiten sich auf eine eventuelle Sperrung der russischsprachigen Wikipedia vor, indem sie Offline-Kopien der Online-Enzyklopädie herunterladen. Die Download-Zahlen schnellten in die Höhe, nachdem eine behördliche Anordnung Anfang März von Wikipedia verlangte, den Artikel „Invasion/Einmarsch Russlands in die Ukraine (2022)“ (Вторжение России на Украину (2022)) entsprechend den amtlichen Vorgaben zu ändern, und mit einer Sperrung drohte (s. o.).[452]
Eine interaktive Online-Karte der britischen Nichtregierungsorganisation Centre for Information Resilience (CIR oder Cen4infoRes) erfasst mithilfe investigativer Journalisten und der Netz-Community signifikante Vorfälle wie zivile Opfer, Bombardierungen, Truppenbewegungen, militärische Verluste sowie die Schäden an der Infrastruktur und an zivilen Einrichtungen.[453]
Die Internet-Kommunikation in der Ukraine durch Soldaten, Zivilisten und Influencer hilft nicht nur bei der Kampfmoral, sie ist auch die Basis für die Anwendung von Open Source Intelligence, durch die alle verfügbaren Informationen ausgewertet werden, um an kriegswichtige Erkenntnisse zu gelangen. Das ukrainische Digitalministerium richtete zudem einen Telegram-Chatbot namens eVororog oder eBopor ein (in etwa: e-Feind), mit dem Nutzer helfen können, die Bewegungen der russischen Truppen zu erfassen.[454]
Das ukrainische Militär stellte die Website russoldat.info auf, auf der es Bilder und Videos von gefallenen und gefangen genommenen russischen Soldaten und zerstörtem russischem Kriegsgerät veröffentlicht. Dort sind auch Hotlines angegeben, über die Verwandte und Angehörige von russischen Soldaten Auskunft erhalten, sofern den ukrainischen Streitkräften Informationen zu gesuchten Personen vorliegen. Auf der Website veröffentlicht das ukrainische Militär außerdem aktuelle Zahlen zu angeblichen Personen- und Materialverlusten der russischen Streitkräfte.[455]
Über den Telegram-Kanal Batman DNR werden unter anonymer Administration Informationen zu Missständen (darunter Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Zivilisten) in den proklamierten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) geteilt.[456]
Selenskyjs Berater Mychajlo Podolja postete am 3. April unzensierte Bilder aus Butscha auf Twitter, die in ihrer Eindringlichkeit darüber hinausgingen, was in anderen Medien wie z. B. in der englischsprachigen Internetzeitung The Kyiv Independent gezeigt wurde.[457]
Das US-amerikanische Unternehmen Cloudflare berichtete Anfang April, dass Nachrichtenseiten außerhalb Russlands mit dem Beginn des Ukrainekriegs zunächst ein „exponentielles Wachstum“ verzeichneten: „Dieser Anstieg wurde jedoch innerhalb weniger Tage durch Maßnahmen zur Blockierung des Datenverkehrs zu diesen Websites ausgeglichen.“ Mit Einführung dieser Maßnahmen wechselten jedoch viele russische Bürger auf andere Wege. Die in Russland im März am meisten heruntergeladene App sei jene für einen DNS-Dienst von Cloudflare gewesen, mit der sich eine VPN-Verbindung zu dem Cloudflare-Netzwerk aufbauen lässt, das nicht von Russland gefiltert wird.[458] Die Nutzung bestimmter VPN-Dienste ist in Russland seit dem November 2017 verboten, und bereits 2019 bis 2021 waren 15 VPN-Anbieter, die ihre Daten der russischen Regierung nicht zur Verfügung gestellt hatten, mit einem Verbot belegt worden.[459]
Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) meldete am 2. März, dass die Kommentarseiten der SRF-Medien seit Anerkennung der selbsternannten Republiken eine starke Zunahme von Troll-Kommentaren aufwiesen; täglich würden von tausenden gesichteten Kommentaren solche gelöscht, richtiggestellt oder eingeordnet. In Deutschland sei das Problem noch viel größer.[460]
Mehrere Influencer in Russland machten über die App TikTok wortgleiche Statements, in denen sie den russischen Angriff auf die Ukraine als Befreiungsaktion bezeichneten und rechtfertigten. Eine Recherche ergab, dass dies eine orchestrierte Propaganda war, die über einen Telegram-Kanal organisiert wurde.[461]
Russischen Hackern gelang es am 16. März, die Website des ukrainischen Nachrichtensenders Ukraine 24 zu hacken und ein Deepfake anstatt der Startseite zu platzieren: Ein gefälschter Selenskyj ruft zum Niederlegen der Waffen auf. Später wurde dieses Video wie auch ein Deepfake mit einer Siegesansprache Putins über soziale Medien verbreitet. Der Facebook-Konzern Meta Platforms hat das gefälschte Selenskyj-Video bereits am selben Tag identifiziert und entfernt.[462]
Der ukrainische Inlandsgeheimdienst hob Ende März mehrere Bot-Farmen aus. In Charkiw, Tscherkassy, Ternopil und der Region Oblast Transkarpatien entdeckte der SBU (Sluschba bespeky Ukrajiny – Sicherheitsdienst der Ukraine) Bot-Farmen, die mit über 100.000 gefälschten Benutzerkonten in sozialen Medien russische Propaganda verbreiteten. Gezielte Falschinformationen sollten Teile der Ukraine in Panik versetzen und destabilisieren, um den Einmarsch russischer Truppen zu erleichtern. Es wurden über 10.000 SIM-Karten, diverse Laptops, Mobiltelefone und USB-Speicher sichergestellt. Die Daten auf den Laptops und Telefonen würden eine Beteiligung russischer Sicherheitsdienste beweisen.[463]
Auf Twitter sind russische Regierungskonten massiv an der Verbreitung prorussischer Desinformation beteiligt, unter anderem das russische Außenministerium und die russische Botschaft in den USA. Drei Viertel der Beiträge beschäftigten sich mit dem Ukraine-Krieg – und verbreiten Fake News, mit denen der Angriffskrieg gerechtfertigt werden soll. Unter anderem wird die Behauptung aufgestellt, dass die Ukraine kein souveräner Staat sei und die Regierung von Neonazis unterwandert worden sei. Die Postings werden aufgrund einer Twitter-Sonderregelung für Regierungskonten nicht gelöscht, die schon Donald Trump erlaubte, während seiner Amtszeit als US-Präsident über das offizielle Benutzerkonto zu twittern, während Beiträge auf seinem privaten Konto häufig als Desinformation markiert wurden.[464]
Laut dem Unternehmen NewsGuard, das Nachrichtenportale nach Desinformation und Vertrauenswürdigkeit bewertet, liefert das Videoportal TikTok den Benutzern „falsche und irreführende Inhalte über den Krieg in der Ukraine, unabhängig davon, ob sie eine Suche auf der Plattform durchführen“. Unter diesen Behauptungen seien „sowohl pro-russische als auch pro-ukrainische Unwahrheiten“.[465]
Am 9. April 2022 blockierte YouTube den Kanal der russischen Duma wegen eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen. Der Duma-Vorsitzende Wolodin und die Sprecherin des Außenministeriums Sacharowa kündigten Vergeltungsmaßnahmen an. YouTube und eventuell dem Mutterkonzern Google droht damit ein Verbot in Russland. „Duma-TV“ hat nach Angaben Moskaus mehr als 145.000 Abonnenten und sendet Ausschnitte aus Parlamentsdebatten und Interviews mit russischen Abgeordneten.[466]
Nach Angaben der East StratCom Task Force ergab die Analyse des Inhalts von Zehntausenden von Überarbeitungen ausgesuchter Wikipedia-Artikel, dass russische Desinformationskanäle in zahlreichen Artikeln als Bezugspunkte verwendet wurden und werden. Die meisten Artikel, die sich auf kremlnahe Desinformationsdienste beziehen, erscheinen in fünf Sprachversionen von Wikipedia: Russisch (136 Artikel), Arabisch (70), Spanisch (52), Portugiesisch (45) und Vietnamesisch (32).[467]
Am 25. April 2022 warf Russlands Präsident Putin dem Westen vor, sein Land „von innen heraus“ zerstören zu wollen, und behauptete, der russische Geheimdienst FSB habe einen Mordversuch „einer terroristischen Gruppe“ auf den Fernsehjournalisten Wladimir Solowjow vereitelt.[468] Ein wenige Tage später durch RIA Novosti veröffentlichtes Video einer angeblichen Razzia bei der angeblichen neonazistischen Terrorgruppe lässt aufgrund von Ungereimtheiten vermuten, dass offenbar alles eine Inszenierung war.[469]
Die „drakonischen“ und selektiv gegen Andersdenkende angewendeten[470] russischen Gesetze verbieten Kritik am Krieg und Darstellungen, welche nicht der Propaganda entsprechen. Gegen Kritiker angewendet werden dabei ein Gesetz gegen Fake-News, das schon seit 2019 – aber natürlich nicht für russische Propaganda –[471] galt, sowie das eiligst verabschiedete Gesetz, das „die Verzerrung des Zwecks, der Rolle und der Aufgaben der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie anderer Formationen während militärischer und anderer Sonderoperationen“ für strafbar erklärt und dafür bis zu 15 Jahre Haft vorsieht.[472] Das Gesetz passierte Duma und Föderationsrat am 4. März und trat am selben Tag in Kraft.[473]
Die Website der Studentenzeitschrift DOXA wurde am 28. Februar gesperrt, nachdem auf ihr ein „Handbuch für Antikriegsstreitigkeiten in der Familie und am Arbeitsplatz“ erschienen war mit Argumenten gegen 17 Hauptthesen, die die Intervention in der Ukraine rechtfertigen sollen. Auch die Website Taygi.info. wurde gesperrt,[435][474] wie auch die Seiten Present Time, New Times, Krym.Realii und die russischsprachige Version von Interfax-Ukraine nebst weiteren ukrainischen Publikationen wie der Ukrajinska Prawda. Zuvor hatte die Medienaufsicht verlangt, dass Nowaja Gaseta, Doschd, Mediazona und andere Medien Berichte entfernen, in denen die „militärische Spezialoperation“ als Krieg bezeichnet worden war.[472] Dabei handelte es sich um die Einführung einer Kriegszensur ohne Erklärung eines Kriegszustandes oder die Verhängung eines Ausnahmezustandes, so die Senatorin Ljudmila Narussowa.[475]
Am 1. März 2022 wurde der liberale Radiosender Echo Moskwy vom Netz genommen. Die Generalstaatsanwaltschaft wies die Medienaufsicht an, den Zugang von Doschd zu blockieren.[476][477] Die gesamte Auflage der Lokalzeitung Глобус (Globus), die in Serow mit einem Antikriegscover erscheinen sollte, wurde von der Polizei beschlagnahmt. Die Amtshandlung sollte angefochten werden, um ihre Verfassungswidrigkeit festzustellen.[478]
Am 4. März schränkte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Informations- und Pressefreiheit in Russland weiter ein. Sie beschränkte den Zugriff auf Websites westlicher Medien (darunter die Deutsche Welle und Radio Swoboda) und russischer Medien, wie Meduza, die ins Exil gezwungen worden waren.[479] Aus Vorsichtsgründen stellten CNN, BBC und CBC ihren Betrieb in Russland temporär ein.[480] ARD und ZDF setzten vom 5. bis 11. März ihre Berichterstattung aus Russland aufgrund des Gesetzes vorläufig aus.[481][482] Die New York Times zog am 8. März eigene Mitarbeiter aus Russland ab.[483] Russland blockierte seinerseits YouTube, Facebook und Twitter für russische Internetnutzer.[484][485] Die Benutzung des Tor-Browsers, mit dem Sperrungen von Websites umgangen werden können, wurde durch die russischen Behörden erschwert, indem sie den einfachen Zugriff auf das Tor-Netzwerk blockierten.[486] Twitter gab hingegen am 8. März im Zuge der Zensurmaßnahmen seinen Dienst im Tor-Netzwerk frei.[487] Am 12. März wurde auch Instagram in Russland blockiert. Instagram war in Russland auch ein beliebter Marktplatz und hatte fünfmal mehr Benutzer als Facebook.[488] Zuvor hatte das Unternehmen Meta Platforms bekanntgegeben, Hassrede bzw. Aufrufe zur Gewalt gegen russische Soldaten auf Instagram und Facebook für Nutzer in der Ukraine, Russland, Polen, Lettland, Litauen, Estland und Ungarn zu erlauben.[489] Am 21. März kam es zum Verbot von Facebook und Instagram durch die russische Justiz.[490]
Die Nowaja Gaseta, bis zur Einstellung am 28. März eines der letzten verbliebenen freien Medien, kündigte an, Informationen zu Russlands Militäraktionen in der Ukraine von ihrer Website zu entfernen, jedoch über die Folgen der jüngsten Entwicklungen für Russland, wie die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Verfolgung von Dissidenten, zu berichten.[484][485] Eine journalistische Berichterstattung zu jeglichen Aspekten der Streitkräfte sei laut Nowaja Gaseta unter dem Gesetz vom 4. März nicht möglich, da jegliche Äußerung, wie ein Aufruf zum Frieden, indirekt als Verstoß gegen das Verbot, den Konflikt als Krieg zu bezeichnen, sowie als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden könnte.[491]
Am 16. März sperrte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor 30 Websites von mindestens 13 russischen und ausländischen Medien (darunter Nowyje Iswestija, Permdaily, BBC, bellingcat).[492][493]
Zwei Tage später wurde bekannt, dass TikTok ausländische Inhalte für russische Benutzer, „ironischerweise auch de[n] Account von TikTok selbst“, sperrte. 95 Prozent der Inhalte seien für russische Benutzer verschwunden. Gleichzeitig durften russische Nutzer keine Videos mehr auf die Plattform laden – vorgeblich, um sich nicht damit in Gefahr zu bringen, also aufgrund der Haftstrafen für Antikriegs-Statements. Auffälligerweise wurde jedoch russische Propaganda weiterhin hochgeladen, sei es von kremltreuen Influencern wie auch durch staatliche Stellen.[494]
In der vorletzten Märzwoche trat ein von der Duma beschlossenes Gesetz in Kraft, das für die Veröffentlichung von angeblichen Falschinformationen über Auslandsaktionen des russischen Staates ebenfalls Haftstrafen von bis zu 15 Jahren vorsieht.[495]
Aufgrund des Artikels über den russischen Überfall auf die Ukraine (Вторжение России на Украину) drohte die Medienaufsicht Roskomnadsor am 1. März 2022 mit der Sperrung der Wikipedia, falls ihrer Ansicht nach fehlerhafte Informationen über die Opfer russischer Soldaten und militärische Gewalt gegen Zivilisten nicht gelöscht würden. Die Wikimedia Foundation wies die Forderung umgehend zurück: Die Wikipedia sei eine wichtige Quelle für zuverlässige, faktisch richtige Informationen, gerade in Krisensituationen. Insofern könne man solchen Einschüchterungsversuchen auf keinen Fall nachgeben.[496][497][498] Am 2. März wurde die in Russland beheimatete Seite Wikimapia geschlossen;[499] am 11. März wurde der Blogger und Wikipedianer Mark Bernstein in Belarus verhaftet, weil er „gefälschtes antirussisches Material“ vertreibe.[500] Maggie Dennis, eine Vize-Präsidentin der Wikimedia Foundation, erklärte in einer Stellungnahme vom 11. März, dass es Versuche gebe, Wikipedia-Autoren zu identifizieren, deren Aktivitäten der russischen Darstellung des Krieges widersprechen. Die Stiftung wende sich entschieden gegen alle Bemühungen, die Weitergabe nachprüfbarer Informationen zu behindern. Dennis empfiehlt Wikipedia-Autoren dennoch, sich selbst und einander online zu schützen und darauf zu achten, „welche Informationen sie über sich selbst auf Wikimedia-Plattformen teilen und wie ihre Wikimedia-Aktivitäten mit ihrer persönlichen Identität in Verbindung gebracht werden können“.[501] In der russischen Wikipedia wurden kurz darauf zum Schutz der Autoren administrativ alle Benutzernamen und Versionen bei einschlägigen Artikeln versteckt.[502]
Der Pressesprecher der Jabloko-Partei und seine Frau wurden schon vor dem Erlass des Zensurgesetzes auf dem Weg vom Theater zur U-Bahn festgenommen, weil sie beide einen Button mit einem Antikriegsslogan trugen.[474] Unter den ältesten Verhafteten in Sankt Petersburg befanden sich die 77-jährige Jelena Ossipowa sowie zweimal eine Überlebende der Leningrader Blockade im Alter von 80 Jahren, die bei der zweiten Verhaftung nicht einmal ein Protestschild getragen hatte.[503] Nach Angaben der deutschen Tagesschau vom 13. März 2022 wurden russlandweit mindestens 14.000 Menschen bei Demonstrationen gegen den Krieg festgenommen.[504] Verhaftet wurden dabei auch Personen, die auf ihren Plakaten nur die Aufschriften „Zwei Worte“ oder „*** *****“ (Sternchen in der Länge der Worte „Нет войне“ Net voyne, deutsch ‚Kein Krieg‘) zeigten.[505]
Am 15. März weitete das für Medien zuständige ukrainische Staatskomitee das Importverbot für Druckerzeugnisse aus Russland auf alle Produkte aus Russland aus, um deren Einfluss auf die ukrainische Bevölkerung zu unterbinden. Die Bücher russischer Nationalisten wie Dugin oder Limonow waren schon seit 2015 verboten.[506]
Der Artikel Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 in der deutschen Wikipedia belegte im lokalen Ranking der Popularität folgende Plätze:
Der präsentierte Inhalt des Wikipedia-Artikels wurde im 2022-05-06 basierend auf extrahiert https://de.wikipedia.org/?curid=12145134