Das Massaker im Zuchthaus Stein und die darauf folgende, sogenannte „Kremser Hasenjagd“ waren Verbrechen im nationalsozialistischen Österreich, denen am 6. April 1945 und den darauffolgenden Tagen mehrere Hundert überwiegend politische Häftlinge und einige Justizbeamte zum Opfer fielen. In der Nachkriegszeit bezeichneten die österreichische und westdeutsche Justiz solche kriminellen Handlungen am Ende des Zweiten Weltkriegs als Endphaseverbrechen, was als mildernder Umstand gewertet wurde.
In der Strafanstalt Stein war ein großer Teil der Insassen aus politischen Gründen inhaftiert worden, z. B. wegen regimekritischer Äußerungen, Hörens von Feindsendern, Verteilung von Flugblättern, Sammelns von Spenden für andere Gefangene oder bewaffneten Widerstands gegen die NS-Machthaber. Die Mehrzahl der Häftlinge stammte aus dem Gebiet des heutigen Österreich, der Tschechischen Republik, Kroatien und Griechenland.[1] Unter den Gefangenen befanden sich NS-Gegner aus kommunistischen, sozialdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen.
Unter dem Eindruck der sich von Osten nähernden Roten Armee wurden innerhalb der Justizstellen in Wien Überlegungen angestellt, wie mit den Häftlingen in den NS-Strafanstalten „bei Feindannäherung“ umgegangen werden sollte. Ergebnis dieser Beratungen im Februar 1945 war ein in vielerlei Hinsicht schwammig formulierter Schriftsatz, der an alle Anstaltsleiter übermittelt wurde. Demnach wären „gewöhnliche“ Kriminelle zu entlassen, Häftlinge aus politischen Gründen allerdings gesammelt unter Bewachung aus dem Frontbereich abzutransportieren. Sollte ein Abtransport nicht möglich sein, wären die politischen Häftlinge zu töten.[2]
Anfang April 1945 gingen in der Strafanstalt Stein die Lebensmittelvorräte zu Ende, und die Bemühungen des Anstaltsleiters Franz Kodré,[3] die zu diesem Zeitpunkt etwa 1.800–1.900 Häftlinge per Bahn oder mit Schleppkähnen die Donau flussaufwärts zu evakuieren, waren nicht erfolgreich. Vor diesem Hintergrund und in sehr weiter Auslegung der Befehle aus Wien veranlasste Kodré zuerst am 5. April die Enthaftung von etwa 80 bis 100 „gewöhnlichen“ Straftätern und schließlich am 6. April morgens die Freilassung aller übrigen Gefangenen – auch der politischen Häftlinge – aus der Strafanstalt Stein sowie der kleinen Außenstelle in der Ortschaft Hörfarth.[4]
Angesichts der bereits im Süden von Wien stehenden sowjetischen Truppen wurde parallel ab dem 6. April 1945 ebenso mit der Räumung der Justizanstalt Wien-Josefstadt begonnen und politische Häftlinge entlassen, darunter auch der spätere österreichische Bundeskanzler Leopold Figl.[5]
Am 6. April morgens wurden alle Häftlinge aus den Zellen geholt und über die bevorstehende Freilassung informiert. Die Stimmung war entsprechend gelöst und fröhlich. Aus Protest gegen die Entscheidung des Direktors leisteten allerdings fanatische NS-Parteigänger unter den Aufsehern passiven Widerstand. Sie schritten nicht ein, als es bei der Ausgabe der Kleidersäcke der Gefangenen zu chaotischen Szenen kam. Um Ruhe und Ordnung während des Entlassungsprozesses zu gewährleisten, sah sich die Anstaltsleitung gezwungen, an verlässliche Häftlinge Gewehre auszugeben. Diese Maßnahme zeigte Wirkung und die Freilassung ging zügig voran, es gab keinerlei Gewaltaktionen weder gegen Häftlinge noch Aufseher. Im Laufe des Vormittags verließen so Hunderte ehemalige Häftlinge, teilweise mit regulären Entlassungspapieren ausgestattet, zu Fuß marschierend den Ort ihrer Gefangenschaft.
Am späten Vormittag berichteten NS-getreue Aufseher dem Kreisleiter von Krems, Anton Wilthum, telefonisch von einer angeblichen „Revolte“ in der Strafanstalt Stein. Wilthum beorderte sogleich Alarmeinheiten der Schutzpolizei, des Kremser Volkssturms, der Wehrmachtgarnison[6] sowie der Waffen-SS nach Stein.[7] Dort angekommen war von einem Aufstand nichts zu bemerken, allerdings löste die Präsenz der Militäreinheiten Nervosität unter den Häftlingen aus. Das Volkssturmkontingent stand unter dem Kommando von Kreisstabsführer SA-Standartenführer Leo Pilz, die aus Pioniersoldaten gebildete Wehrmachtseinheit befehligte Major Werner Pribil. In Begleitung von Pribil trat der eben in Krems eingetroffene NS-Führungsoffizier, Oberleutnant Lorenz Sonderer, auf den Plan. Sonderer, ursprünglich der Gebirgsjägertruppe zugehörig, sollte als „Sonderbeauftragter“ im Wirkungsbereich der Heeresgruppe Süd „mit allen Mitteln für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin“ sorgen.[8] Sowohl Pilz als auch Sonderer galten als überzeugte Nationalsozialisten. Da Direktor Kodrés Argumentation, die Freilassung sei von der Justizverwaltung gedeckt, kein Glauben geschenkt wurde, begannen die Alarmeinheiten, die umliegenden Straßen zu sperren und die verbliebenen Häftlinge in das Anstaltsgelände zurückzudrängen. Kodré und die ihm loyalen Aufseher Johann Lang, Johann Bölz und Heinrich Lassky wurden verhaftet, den bewaffneten Häftlingsposten die Gewehre abgenommen. Der stellvertretende Anstaltsleiter Alois Baumgartner hielt dabei das seinen Vorgesetzten entlastende Schreiben der NS-Justizverwaltung zum Umgang mit den Häftlingen bewusst zurück.
Panische Häftlinge versuchten darauf, in die Innenhöfe zu flüchten, und verriegelten die Tore. Pilz und seine Gesinnungsgenossen unter den Wärtern drangen ins Innere der Anstalt ein, warfen Handgranaten zwischen die Häftlinge und ermöglichten den Exekutiveinheiten den Zutritt durch die Tore. Sogleich eröffneten Waffen-SS und Wehrmacht wahllos das Feuer mit Gewehren, Pistolen und Maschinenpistolen auf die wehrlosen Häftlinge. Dutzende Gefangene wurden in den Höfen niedergeschossen, danach begannen SS-Einheiten, die Gebäudetrakte zu durchsuchen, und töteten dort versteckte Häftlinge. Selbst aus dem Krankenrevier wurden Verwundete herausgezerrt und im Freien massakriert. Verschont blieben lediglich jene Gefangene, die von couragierten Wärtern im letzten Moment wieder in die Zellen zurückgebracht und eingesperrt wurden, um den Eindruck zu vermitteln, die Insassen wären gar nicht zur Freilassung vorgesehen gewesen.
Der inzwischen vor Ort eingetroffene Kreisleiter Wilthum befahl die Exekution von Kodré und den drei Aufsehern unter dem Vorwurf, ihre Dienstpflichten verletzt und einen Aufstand der Häftlinge ermöglicht zu haben. Die vier Beamten wurden von Angehörigen der Wehrmacht unter persönlicher Beteiligung des Oberbürgermeisters von Krems, Franz Retter, ohne jegliches Verfahren an der Gefängnismauer erschossen.[9] Erst nachträglich konstruierte man, unter Billigung von Gauleiter Hugo Jury, alibihalber ein Standgerichtsurteil.
Insgesamt starben an diesem Nachmittag allein in der Strafanstalt Stein 229 Häftlinge, die einige Tage später in Massengräbern am Gefängnisgelände verscharrt wurden. Ein unbeteiligter Aufseher wurde „versehentlich“ von der Waffen-SS erschossen. Unter den einschreitenden Exekutivkräften gab es weder Verwundete noch Tote.[10]
Zeitgleich mit dem gewalttätigen Vorgehen gegen die Häftlinge in der Strafanstalt begannen motorisierte Greifkommandos der Waffen-SS, die Umgebung nach entlassenen Häftlingen abzusuchen. Unterstützt wurden sie von Einheiten der lokalen Gendarmerieposten sowie von Volkssturmtrupps der umliegenden Ortschaften. Viele der auf den Ausfallstraßen von Krems wegmarschierenden Häftlinge waren noch in Häftlingskleidern unterwegs und hatten von der Gewalteskalation in der Strafanstalt keine Kenntnis. Sie wiegten sich in Freiheit, sahen keine Veranlassung, sich zu verstecken, und wurden so eine leichte Beute für die NS-Häscher. Jene Häftlinge, die der Waffen-SS direkt in die Hände fielen, wurden zumeist an Ort und Stelle erschossen. Dasselbe Schicksal erlitten jene, die der Volkssturm anhielt und befehlsgemäß an die Waffen-SS-Streifen übergab.[11]
Die Herkunft des Begriffs "Kremser Hasenjagd" ist nicht eindeutig belegt. Während Presseberichte bereits im Frühjahr 1946 die "Mühlviertler Hasenjagd" thematisieren, dürfte dieser Euphemismus auf den Kremser Kontext nicht vor 1949 angewandt worden sein.
Nur wenige Einzelfälle sind bekannt, wo es Häftlingen gelang, sich mit Unterstützung couragierter Zivilpersonen erfolgreich zu verstecken. Eine Familie in Hörfarth gewährte zwei ehemaligen Gefangenen Unterschlupf und rettete so deren Leben.[18] Ähnliches geschah in Mautern an der Donau, wo die Familie eines Steiner Hilfsaufsehers erfolgreich einen Häftling in einer Scheune versteckte.[19] Ein weiterer Hilfsaufseher aus Theiß bewies persönlichen Mut, als er vier in Hadersdorf festgehaltene Häftlinge mit Verweis auf deren Entlassungspapiere vor der Erschießung bewahrte und in die Anstalt zurückbegleitete.[20]
Die Zählung der überlebenden Häftlinge in der Strafanstalt am Tag nach dem Massaker ergab 1074 Personen.[21] Unter Berücksichtigung der Belegung mit etwa 1700–1800 Insassen Anfang April und der 80–100 am 5. April Entlassenen fanden ca. 550–650 Häftlinge während des Massakers in der Anstalt oder im Zuge der „Kremser Hasenjagd“ den Tod. Zahlreiche Opfer müssen noch in teils bekannten, aber großteils noch unbekannten Massengräbern rund um Krems vermutet werden.
240 Kriminelle mit Freiheitsstrafen bis fünf Jahren wurden am 7. und 8. April regulär entlassen. Die verbleibenden 836 Insassen wurden am 8. April in Laderäume von Schleppkähnen gesperrt und unter Bewachung die Donau flussaufwärts in Haftanstalten nach Bayern verbracht. Dort erlebten sie schließlich die Befreiung durch US-amerikanische Streitkräfte.[22]
Wenige Tage nach dem Massaker, am 9. April, gelangten 44 zum Tode verurteilte Häftlinge aus dem Wiener Landgericht in die leere Strafanstalt Stein, wo sie am 15. April 1945 ebenfalls von Angehörigen der Waffen-SS erschossen wurden.[23] Darunter waren die beiden Franziskaner Angelus Steinwender und Kapistran Pieller, welche als Mitglieder des antifaschistischen Widerstands zum Tode verurteilt waren.[24] Zu den Erschossenen gehörten auch der katholische Priester Anton Granig, der führende Kopf der „Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs“ aus Klagenfurt, und Andreas Hofer, Mitglied der Widerstandsgruppe Maier-Messner-Caldonazzi.[25]
Noch im Herbst 1945 begannen Ermittlungen der Justiz im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Strafanstalt Stein. 14 Rädelsführer unter den Aufsehern sowie der Kremser Volkssturmkommandant mussten sich vor dem Volksgericht Wien für die begangenen Verbrechen verantworten. Kreisleiter Wilthum und Gauleiter Jury verübten Selbstmord und entzogen sich so ihrer Verantwortung im Gerichtssaal. Oberleutnant Sonderer schlug sich in seine Bayerische Heimat durch und blieb für die österreichische Justiz unauffindbar. Der sogenannte „Stein-Prozess“ endete am 30. August 1946 für fünf der Angeklagten mit Todesurteilen (Leo Pilz, Alois Baumgartner, Anton Pomassl, Franz Heinisch und Eduard Ambrosch),[26] fünf weitere erhielten lebenslange Freiheitsstrafen, einer drei Jahre Haft und vier wurden freigesprochen.[27]
Ein eigener Volksgerichtsprozess beschäftigte sich mit dem Massaker in Hadersdorf. Im Zusammenhang mit dem Verfahren ließen die Behörden die Opfer der dortigen Erschießung gerichtlich exhumieren. Der lokale NS-Ortsgruppenleiter, der Ortsbauernführer sowie ein Beamter der Kreisleitung Krems wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.[28]
Auffällig erscheint, dass im Zuge der Nachkriegsprozesse kein einziger der beteiligten Waffen-SS-Angehörigen ermittelt bzw. gerichtlich belangt wurde.
Eine umfassende gerichtliche und wissenschaftliche Aufarbeitung der „Kremser Hasenjagd“ im übrigen Umland von Krems fand bis zum heutigen Tag nicht statt. Die südlich von Krems von mehreren Zeitzeugen bestätigten Massengräber ermordeter Häftlinge wurden von der Justiz bislang nicht geöffnet.[29]
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