Marina Owsjannikowa (russisch Марина Овсянникова; * 1978 in Odessa,[1][2] Ukrainische SSR, Sowjetunion, heute Ukraine, als Marina Tkatschuk, russisch Марина Ткачук[3]) ist eine russische Redakteurin, die für den Fernsehsender Perwy kanal (Erster Kanal) gearbeitet hat. Sie erlangte internationale Bekanntheit durch eine Anti-Kriegs-Demonstration während einer Live-Sendung am 14. März 2022, 19 Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Dabei wies sie auf die vom Perwy kanal verbreitete Propaganda der russischen Staatsführung hin. Owsjannikowas Aktion war einer von mehreren Protesten gegen die russische Invasion in der Ukraine 2022 von oder in russischen Medien.
Marina Owsjannikowa ist die Tochter eines Ukrainers und einer Russin.[4] Ein Jahr nach ihrer Geburt zogen ihre Eltern mit ihr nach Russland.[2]
1985 zog die Familie in die russische Teilrepublik Tschetschenien, von wo sie Anfang der 1990er Jahre aufgrund der beginnenden Tschetschenienkriege floh.[5] Ende der 1990er-Jahre zog sie mit ihren Eltern nach Krasnodar,[6] wo sie die Staatliche Universität Kuban absolvierte[3][7] und anschließend unter anderem beim Sender „Kuban TV“ arbeitete.[6][8] Später zog sie nach Moskau um und absolvierte die Russische Präsidentenakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung.[7]
Danach arbeitete sie beim Perwy kanal (Ersten Kanal) für die staatliche Fernseh- und Rundfunkgesellschaft Russlands.[7] Dort war sie für den Bereich „Auslandsnachrichten“ zuständig; sie stand mit den internationalen Nachrichtenagenturen und Sendern in Kontakt, verfolgte die westlichen Nachrichten, recherchierte, nahm Interviews mit Politikern und Experten aus dem Ausland auf und produzierte Beiträge für das Programm.[2]
Marina Owsjannikowa war mit Igor Owsjannikow verheiratet, der als Regisseur bei Russia Today arbeitet.[9][10][5] Sie hat einen Sohn und eine Tochter (Anfang 2022 im Alter von 17 und 11 Jahren)[11] und wohnt in der Satellitenstadt „Neu-Moskau“.
Einem Interview mit Yuga.ru aus dem Jahr 2002 zufolge war Marina Owsjannikowa während ihres Studiums Freiwasser-Wettkampfschwimmerin.[8]
Owsjannikowa arbeitete bei Perwy kanal im Wochenwechsel (eine Woche Arbeit, eine frei). Am Sonntag, den 13. März 2022, dem letzten Tag einer freien Woche, kaufte sie Papier und Stifte und malte in ihrer Küche ein Protestplakat.[2]
Am 14. März 2022 lief Owsjannikowa während eines Beitrags über die Invasion in der Ukraine in den Hauptnachrichten Wremja ihres Senders an einem stetig anwesenden Polizisten vorbei ins Studio, stellte sich hinter die Nachrichtensprecherin Jekaterina Andrejewa und hielt ihr ausgerolltes Plakat in die Kamera.[2] Zunächst war das Plakat teilweise durch die sitzende Nachrichtensprecherin verdeckt. Owsjannikowa korrigierte daraufhin ihren Standort und blieb aus Zuschauersicht rechts hinter der Sprecherin mit dem vollständig sichtbaren Plakat stehen. Das Plakat zeigte neben kleinen ukrainischen und russischen Flaggen die englischen und russischen Aufschriften:
“NOWAR
Остановите войну
не верьте пропаганде
здесь вам врут
RUSSIANS AgAINST WAR”
„Kein Krieg
Beenden Sie den Krieg
Glauben Sie der Propaganda nicht
Hier werden Sie belogen
Russen gegen den Krieg“
Dazu rief sie: «Остановите войну! Нет войны!» („Beendet den Krieg! Kein Krieg!“)
Die Studioaufnahme wurde fünf Sekunden nach dem Beginn des Auftritts durch einen Einspieler-Beitrag unterbrochen. Owsjannikowa begab sich aus dem Studio zu ihrem Arbeitsplatz. Die vielen Vorgesetzten, die zu ihr kamen und fragten, ob sie es gewesen sei, wollten es nicht so recht glauben.[2]
Der halbstaatliche Perwy kanal ist der populärste Sender in Russland.[13] Eine Aufzeichnung der Nachrichtensendung vom 14. März 2022 stand nicht zum Download zur Verfügung, was für diesen Fernsehsender ungewöhnlich ist. Livesendungen werden seither um bis zu zwei Minuten versetzt übertragen.[2]
Am Tag vor der Aktion hatte Owsjannikowa ein Video mit einer persönlichen Erklärung aufgenommen, das sie nach der Aktion auf Facebook veröffentlichte.[2] Darin bekundete sie ihre Scham, für die russische Staatspropaganda beim Fernsehsender Perwy kanal (Ersten Kanal) gearbeitet zu haben, und rief zum offenen Protest gegen den Krieg auf.[14]
Ein Ausschnitt des Wortlauts wird in einer dpa-Übersetzung, hier aus der Süddeutschen Zeitung, wie folgt wiedergegeben:
{{Zitat|Das, was jetzt in der Ukraine geschieht, ist ein Verbrechen. Und Russland ist der Aggressor. Und die Verantwortung für diese Aggression liegt nur auf dem Gewissen eines Menschen – und dieser Mensch ist Wladimir Putin. […] Wir haben 2014 geschwiegen, als das alles anfing. Wir sind nicht für Demonstrationen rausgekommen, als der Kreml Nawalny vergiftet hat. Wir haben dieses menschenfeindliche Regime einfach nur stillschweigend beobachtet. Jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet. […] Wir, die russischen Menschen, können denken und sind klug. Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts. Sie können uns nicht alle einsperren.|ref=[15][16][17][18]
In der Videobotschaft trug sie eine Halskette mit in verschiedenen Farben aneinander gereihten Elementen: Auf Rot, Weiß und Blau (Farben Russlands) folgten Gelb und Blau (Farben der Ukraine).
Owsjannikowa wurde zwischenzeitlich festgenommen.[19] Eigener Angabe zufolge wollten ihr die Beamten, die sie befragten, lange nicht glauben, dass sie keinen Kontakt in den Westen hatte und dass sie „selbst entschieden habe zu protestieren“. Bei den Vernehmungen wurde sie mit ihren Forderungen nach einem Anwalt vertröstet und es war ihr währenddessen untersagt, selbst Kontakt zu einem Anwalt aufzunehmen.[2]
Die Rechtsanwälte Owsjannikowas teilten mit, dass eine Voruntersuchung wegen „Herabsetzung der russischen Streitkräfte“ eingeleitet worden sei. Ihre Mandantin werde unter Vorenthaltung anwaltlicher Vertretung festgehalten.[20] Am Abend des 15. März 2022 wurde berichtet, sie sei von einem Moskauer Gericht zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (etwa 250 Euro) verurteilt worden.[21] Sie habe vor Gericht ihre Schuld bestritten und den Vorwurf erneuert, Russland begehe in der Ukraine als Aggressor ein Verbrechen. Sie wurde bislang nicht nach dem neuen russischen Mediengesetz verurteilt, das bis zu 15 Jahre Haft für die Behauptung von „Falschnachrichten“ über das russische Militär vorsieht. Da sich die Verurteilung wegen „Organisation einer nicht erlaubten öffentlichen Aktion“ auf ihr Video, nicht aber den Auftritt in der Nachrichtensendung bezog, ist derzeit noch unklar, ob es zu einer weiteren Anklage kommt.[22][23]
In mehreren Interviews äußerte sich Owsjannikowa besorgt um ihre Sicherheit und die ihrer Kinder. Sie habe aber nicht vor, aus Russland zu fliehen; sie sei Patriotin. Jedoch erklärte sie, dass sie nicht sehr politisiert gewesen sei, sich aber ihre Unzufriedenheit über die Einschränkungen der politischen Teilhabe und die der Pressefreiheit in Russland über viele Jahre aufgestaut habe und der Beginn des Krieges gegen die Ukraine der Punkt gewesen sei, an dem es für sie „kein Zurück mehr gab“. Für Owsjannikowa „war der Protest in erster Linie eine pazifistische Aktion“, da es „im Interesse Russlands und der Welt“ sei, den Krieg „so schnell wie möglich zu beenden“. Sie hoffe, dass ihr Protest nicht umsonst gewesen sei und dass die russische Bevölkerung ihre Augen öffne und Kriegspropaganda genauer hinterfrage.[2][24][25]
Etwa eine Woche nach ihrem Protest rief sie in einem Interview mit dem US-Fernsehsender ABC zu Demonstrationen auf.[26]
Demonstrationen gegen das russische Vorgehen in der Ukraine und dessen Bezeichnung als Krieg werden in Russland durch ein im Schnellverfahren durch das russische Parlament genehmigtes Gesetz vom 4. März 2022 untersagt. Das Gesetz stellt „die Verzerrung des Zwecks, der Rolle und der Aufgaben der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie anderer Formationen während militärischer und anderer Sonderoperationen“ unter Strafe. Angedroht werden bis zu 15 Jahre Haft.[27] Die Höchststrafe gilt für Personen, die ihre Taten „aus Gründen des persönlichen Vorteils“ oder „unter Ausnutzung einer offiziellen Position“ begehen, was in Russland so verstanden werden konnte, dass diese Formulierung auf Journalisten abziele, die für ihre Arbeit bezahlt seien.[28][29]
Unterstützend äußerten sich u. a. der Politologe Abbas Galljamow,[9] der Radio-Swoboda-Korrespondent Danila Galperowitsch,[9] der Ökonom Andrei Netschajew,[9] Alexei Nawalny,[30] dessen Pressesekretärin Kira Jarmysch[31] sowie die Oppositionellen Ljubow Sobol,[31] Lew Schlosberg,[31] Dmitri Gudkow und Ilja Jaschin.[31] Der Doschd-Journalist Timofei Dsjadko verglich Owsjannikowas Aktion mit der Aktion von Natalja Gorbanewskaja bei der Demonstration vom 25. August 1968 auf dem Roten Platz gegen die Unterdrückung des Prager Frühlings.[31]
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, bezeichnete die Tat hingegen als Rowdytum beziehungsweise Hooliganismus („хулиганство“).[32]
Die Nowaja Gaseta verwendete das Bild des Protestes auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 16. März 2022, das dreimal verwendete Wort „Krieg“ jeweils verpixelt. Die Zeitung hatte wegen der eingeführten Militärzensur ihre Online-Berichterstattung zum Krieg vorübergehend reduziert, da sie die Existenz der Zeitung gefährden könnten.[33][34] An vielen Kiosken war das Heft nicht erhältlich.[35]
Der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj betonte, er sei allen Russen dankbar, „die nicht aufhören, die Wahrheit zu sagen“.[36] International wurde Owsjannikowas Aktion von vielen Seiten gelobt. Der französische Präsident Emmanuel Macron bot Owsjannikowa am 15. März 2022 Asyl in Frankreich an. Macron kündigte an, er werde dies beim nächsten Gespräch mit Präsident Putin thematisieren.[37]
Personendaten | |
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NAME | Owsjannikowa, Marina |
ALTERNATIVNAMEN | Owsjannikowa, Marina; Tkatschuk, Marina (Geburtsname); Ткачук, Марина (russisch); Овсянникова, Марина (russisch); Ovsyannikova, Marina |
KURZBESCHREIBUNG | russische Fernsehredakteurin |
GEBURTSDATUM | 19. Juni 1978 |
GEBURTSORT | Odessa, Oblast Odessa, Ukrainische SSR, Sowjetunion |
Der präsentierte Inhalt des Wikipedia-Artikels wurde im 2022-03-24 basierend auf extrahiert https://de.wikipedia.org/?curid=12170208