Günter de Bruyn

Christa Wolf und Günter de Bruyn bei der Berliner Begegnung zur Friedensförderung (1981)

Günter Martin de Bruyn [də ˈbʀɔɪn] (* 1. November 1926 in Berlin; † 4. Oktober 2020 in Bad Saarow) war ein deutscher Schriftsteller.

Leben

Günter de Bruyn wurde 1926 als jüngstes von vier Kindern einer katholischen Familie geboren. Kindheit und Schulzeit verbrachte er im Berlin-Neuköllner Ortsteil Britz (Rudower Allee 8, seit 1947 Buschkrugallee). Von 1943 bis 1945 nahm er als Luftwaffenhelfer und Soldat in Böhmen am Zweiten Weltkrieg teil. Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft und einem Lazarettaufenthalt wegen einer Kopfverletzung fand er eine Stelle als Landarbeiter in Hessen. Nach seiner Rückkehr nach Berlin 1946 wurde er in Potsdam zum Neulehrer ausgebildet. Bis 1949 war er als Lehrer in Garlitz im Havelland tätig.

Von 1949 bis 1953 absolvierte de Bruyn eine Ausbildung zum Bibliothekar. Danach arbeitete er bis 1961 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Bibliothekswesen in Ost-Berlin. Er war in jener Zeit auch als Dozent tätig und veröffentlichte bibliothekswissenschaftliche Arbeiten.

Seit 1961 arbeitete de Bruyn als freier Schriftsteller. Ab 1965 war er Mitglied des Zentralvorstandes des Deutschen Schriftstellerverbands (1973 umbenannt in Schriftstellerverband der DDR) sowie ab 1974 im Präsidium des PEN-Zentrums der DDR. Wegen des Interesses de Bruyns an dem Vorhaben von Schriftstellerkollegen, durch Gründung eines „Selbstverlags“ die Zensur in der DDR zu umgehen, trat 1974 das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) an ihn heran.[1] De Bruyn sollte zwecks Verhinderung des Projekts „unter Legende“ als inoffizieller Mitarbeiter (IM „Roman“) angeworben werden. Der Vorgang wurde wegen Erfolglosigkeit Anfang 1976 eingestellt. Im Jahr 1983 setzte das MfS die Bearbeitung de Bruyns nunmehr als operative Personenkontrolle (OPK „Roman“) fort, denn es „verfestigten sich bei dem B. politisch-ideologische Unklarheiten und oppositionelle Einstellungen und Widersprüche zur sozialistischen Entwicklung“. Gründe der Einschätzung waren u. a. sein Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976, der zunächst den Ausschluss aus dem Berliner Vorstand des Schriftstellerverbands und auf dem VIII. DDR-Schriftstellerkongress im Mai 1978 auch aus dem Zentralvorstand zur Folge hatte, und 1981 seine Stellungnahme gegen die Verfolgung der DDR-Friedensbewegung beim IX. Schriftstellerkongress:[2]

„[Man] hat aber, wenn man die Zeitungen aufschlägt, ein ungutes Gefühl, wenn die DDR staatlicherseits den Antikriegskampf der Christen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer jenseits der Grenzen begrüßt, der Antikriegskampf der Christen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer innerhalb der eigenen Grenzen aber behindert wird.“

Günter de Bruyn (1981)

Ziel der OPK war, einen „Missbrauch“ de Bruyns als „personeller Stützpunkt gegnerischer Kräfte innerhalb und außerhalb der DDR“ zu verhindern. Die bereits gedruckte Erstauflage seines Romans Neue Herrlichkeit wurde auf Geheiß der zweiten Instanz der Zensur makuliert. Erst nachdem der Roman Neue Herrlichkeit 1984 in der Bundesrepublik Deutschland bei Fischer erschienen war, konnte er 1985 auch in der DDR beim Mitteldeutschen Verlag erscheinen.[3] Das MfS nannte als Grund für das Erscheinen in der DDR ein „abgestimmtes Vorgehen der gesellschaftlichen und staatlichen Stellen“. Es sei dadurch verhindert worden, de Bruyn zum „oppositionellen Schriftsteller hochzuspielen und zur Hetze gegen die Kulturpolitik der DDR auszunutzen“, und stellte die OPK 1986 ein.

Auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR im November 1987 forderten er und Christoph Hein die Abschaffung der Zensur in der DDR.[4] Im Oktober 1989 lehnte de Bruyn die Annahme des Nationalpreises der DDR wegen „Starre, Intoleranz und Dialogunfähigkeit“ der Regierung ab. Er hat „wie kein zweiter DDR-Autor das eigene Verhalten öffentlich hinterfragt“.[5]

Nach der Wende war er Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und des Kuratoriums der Akademie für gesprochenes Wort in Stuttgart.[6]

De Bruyn lebte in Berlin. Um sich der dortigen Atmosphäre, die er als einengend empfand, zu entziehen, verbrachte er ab 1967 die meiste Zeit zurückgezogen im Görsdorfer Ortsteil Blabber am Blabbergraben bei Beeskow.[7] Günter de Bruyn starb im Oktober 2020 im Alter von 93 Jahren im Krankenhaus von Bad Saarow.[8][9] Ein Sohn ist der Schriftsteller und Museumsdirektor Wolfgang de Bruyn.

Künstlerisches Schaffen

Günter de Bruyns Werk besteht zum einen aus häufig autobiographisch gefärbten, realistischen Romanen und Erzählungen, die sich dem „staatlich alimentierten Bildungsbürgertum der DDR“ (Gustav Seibt) – Kulturschaffenden, Professoren, Lehrern, Akademiemitarbeitern und Bibliothekaren – widmeten,[7] zum anderen aus Essays zu literaturwissenschaftlichen und historischen Themen, insbesondere zur Geschichte Preußens. Jean Paul und Theodor Fontane beeinflussten de Bruyns Stil.[7]

Er war Herausgeber einer Reihe von Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts mit Bezug zu Berlin und zur Mark Brandenburg, die unter dem Titel Märkischer Dichtergarten (mit Gerhard Wolf) erschien.

Großen Erfolg hatte er in den 1990er-Jahren mit den beiden Bänden seiner Autobiographie: Zwischenbilanz (über seine Jugend in Berlin) und Vierzig Jahre: Ein Lebensbericht.

Auszeichnungen und Ehrungen

Werke

  • Über die Arbeit in Freihandbibliotheken, Berlin 1957
  • Hochzeit in Weltzow, Halle (Saale) 1960
  • Wiedersehen an der Spree, Halle (Saale) 1960
  • Einführung in die Systematik für allgemeinbildende Bibliotheken, Berlin 1961
  • Der Hohlweg, Halle (Saale) 1963
  • Ein schwarzer, abgrundtiefer See, Halle (Saale) 1963
  • Maskeraden, Halle (Saale) 1966
  • Buridans Esel, Halle (Saale) 1968 (zuerst veröffentlicht in „Sinn und Form“ 1963)
  • Preisverleihung, Halle (Saale) 1972
  • Der Holzweg, in: Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk. Hrsg. von Gerhard Schneider. Berlin/Weimar 1974
  • Tristan und Isolde. Nach Gottfried von Straßburg neu erzählt von Günter de Bruyn. Farbige Illustrationen von Peter Nagengast. Neues Leben, Berlin 1975, zugleich bei Kindler, München 1975
  • Geschlechtertausch in „Blitz aus heiterem Himmel“, Berlin 1975, S. 7–45, (Anthologie herausgegeben von Edith Anderson)
  • Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, Halle (Saale) 1975
  • Märkische Forschungen, Halle (Saale) u. a. 1978
  • Im Querschnitt, Halle (Saale) u. a. 1979
  • Babylon, Leipzig 1980
  • Neue Herrlichkeit. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-10-009603-7;
DDR-Erstausgabe: Mitteldeutscher Verlag, Halle, Leipzig 1985

Herausgeber

Verfilmungen

TV-Literatur-Porträt

„Im Windschatten der Mauer“, Günter de Bruyn – Chronist seiner Zeit, ein Film von Vera Botterbusch 60 Min., BR 1993

Hörbücher

Hörfunk-Produktionen

  • Zwischenbilanz: Eine Jugend in Berlin, vom Autor gekürzte Lesung mit Günter de Bruyn, Regie: Veronika Hübner, MDR KULTUR 1996
  • Neue Herrlichkeit ungekürzte Lesung mit Jürgen Hentsch, Regie: Petra Meyenburg, MDR FIGARO 2006
  • Vierzig Jahre: Ein Lebensbericht, ungekürzte Lesung mit Sylvester Groth, Regie: Klaus Zippel, MDR FIGARO 2011
  • Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll, ungekürzte Lesung mit Burghart Klaußner, Regie: Matthias Thalheim, MDR KULTUR 2019

Literatur

  • Günter de Bruyn, hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Ed. Text + Kritik, München 1995. ISBN 3-88377-502-9
  • Günter de Bruyn in perspective, ed. by Dennis Tate. Rodopi, Amsterdam 1999. ISBN 90-420-0566-1
  • Günter de Bruyn. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. v. Uwe Wittstock. Fischer-Taschenbuch-Verl., Frankfurt am Main 1991. ISBN 3-596-10960-4
  • Owen Evans: Ein Training im Ich-Sagen. Personal authenticity in the prose work of Günter de Bruyn, Lang, Bern u. a. 1996. (= European university studies; Ser. 1, German language and literature; 1580) ISBN 3-906756-14-9
  • Marga Firle: Erzählen als Sprachhandlung in der poetischen Kommunikation. Untersuchungen zum Kommentieren in den "Märkischen Forschungen" von Günter de Bruyn, Akad. d. Wiss. d. DDR, Zentralinst. f. Sprachwiss., Berlin 1987. (= Linguistische Studien/A; 167)
  • Magdalena Grams: Das künstlerische Wirklichkeitsverhältnis Günter de Bryuns. Dargestellt an Figurenwahl, Konfliktgestaltung und Erzählweise seiner ausgewählten Prosawerke, Univ. Diss. A, Leipzig 1988.
  • Frank Hafner: "Heimat" in der sozialistischen Gesellschaft. Der Wandel des DDR-Bildes im Werk Günter de Bruyns, Lang, Frankfurt am Main u. a. 1992. (= Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland; 13) ISBN 3-631-43097-3
  • Karin Hirdina: Günter de Bruyn. Leben und Werk, Verlag Das Europ. Buch, Westberlin 1983. ISBN 3-88436-136-8
  • Anja Kreutzer: Untersuchen zur Poetik Günter de Bruyns, Lang, Frankfurt am Main u. a. 1995. (= Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts; 12) ISBN 3-631-48129-2
  • Lutz Kube: Zwischen "Heimat" Brandenburg und Sozialismus, UMI, Ann Arbor, MI 2005.
  • Domenico Mugnolo: Günter de Bruyn narratore, 2. ed. Univ. di Trento, Dipartimento di Storia della Civiltà Europea, Trento 1993. (= Ricerche di germanistica; 3)
  • Marcel Reich-Ranicki: Entgegnung: Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Dt. Verl.-Anst., Stuttgart 1979. ISBN 3-421-01890-1
  • Peter K. Stein: Literaturgeschichte, Rezeptionsforschung, "produktive Rezeption". Ein Versuch unter mediävistischem Aspekt anhand von Beobachtungen zu Günter de Bruyns Nachdichtung von Gottfrieds von Strassburg "Tristan" im Kontext der wissenschaftlichen und kulturpolitischen Situation in der DDR, Kümmerle, Göppingen 1979. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 287) ISBN 3-87452-463-9
  • Kurzbiografie zu: Bruyn, Günter de. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Band 1. Ch. Links, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4.
  • Bernhard M. Baron, Falkenberg 1945: Zwischenstation für Günter de Bruyn, in: Heimat – Landkreis Tirschenreuth Bd. 26 (2014), Pressath 2014, S. 163–170, ISBN 978-3-939247-55-5

Weblinks

Commons: Günter de Bruyn – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Zu den folgenden Informationen und Zitaten siehe Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Ch. Links, Berlin 1996, ISBN 3-86153-121-6, S. 467–471; „Legende“ S. 467, „politisch-ideologische Unklarheiten“ S. 469, „personeller Stützpunkt“ S. 470, „abgestimmtes Vorgehen“ S. 471.
  2. Mitschnitt der Kongressreden, Deutsches Rundfunkarchiv. Und: Bericht von Henry Bernhard 1981 im Deutschlandfunk.
  3. Thomas Brose: Günther de Bruyn kehrt auf die literarische Bühne zurück: Fragen an die Gegenwart. In: Herder Korrespondenz, Jg. 73 (2019), Nr. 11. S. 51.
  4. S. 338.
  5. Tilman Spreckelsen: Seid ihr nur laut, er ist gründlich. Redlich, sinnlich: Dieser Erzähler hat einen verblüffenden Altersstil entwickelt – zum neunzigsten Geburtstag des Schriftstellers Günter de Bruyn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. November 2016, S. 11.
  6. Akademie für gesprochenes Wort | Vorstand. Abgerufen am 2. März 2018.
  7. a b c Gustav Seibt: Schwarzer Horizont [Titel in der Printausgabe]. In: Süddeutsche Zeitung, 9. Oktober 2020, S. 11
  8. Camillo Kupke: Schriftsteller Günter de Bruyn ist tot . In: Märkische Oderzeitung, 8. Oktober 2020. Abgerufen am 8. Oktober 2020.
  9. Schriftsteller Günter de Bruyn ist gestorben. 8. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
  10. Auskunft des Bundespräsidialamtes
  11. Träger des Jean-Paul-Preises (Memento vom 27. Juni 2015 im Internet Archive), Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst
  12. siehe Übersicht unter http://geschichte-brandenburg.de/wordpress/vorstand/ Abgerufen am 10. Oktober 2020.
  13. Helmut Glück, Walter Krämer, Eberhard Schöck (Hrsg.): Kulturpreis Deutsche Sprache 2006 – Reden und Ansprachen. Paderborn 2006, ISBN 978-3-931263-63-8.
  14. Gratulation für Günter de Bruyn | MWFK. Abgerufen am 11. Dezember 2017.
  15. Buchrezension: Kossenblatt. Das vergessene Königsschloss (Memento vom 14. Mai 2014 im Internet Archive), WDR3 vom 9. April 2014
  16. Der weite Blick aus Brandenburg. Günter de Bruyn hat mit über 92 Jahren einen neuen Roman herausgegeben. Ein Porträt. Rezension von Stefan Sieprath: Die Tagespost. 16. Januar 2019, abgerufen am 19. Oktober 2020.

Information

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