David Rolfe Graeber (* 12. Februar 1961 in New York City; † 2. September 2020 in Venedig) war ein US-amerikanischer Kulturanthropologe und Publizist, der anarchistische Positionen vertrat. Er lehrte an der London School of Economics and Political Science.
Er war einer der Anführer der Bewegung Occupy Wall Street und Miterfinder von deren Motto „We are the 99 percent“.[1] Bekanntheit erlangte er unter anderem auch durch seine in den 2010er Jahren veröffentlichten Bücher Debt: The First 5000 Years, The Utopia of Rules und Bullshit Jobs.
Seine Eltern waren gebildete Arbeiter und in linken Gruppen aktiv; zu seinen Vorfahren gehörten osteuropäische Juden mit deutscher Verwandtschaft.[2] Sein Vater kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939)[3] und kehrte als überzeugter Anarchist zurück. Graeber wuchs in New York in einer von radikalem politischen Denken bestimmten Wohngemeinschaft auf.[4]
David Graeber war Autor von Fragments of an Anarchist Anthropology (dt. Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, erschienen als Frei von Herrschaft) und Towards an Anthropological Theory of Value: The False Coin of Our Own Dreams (dt. Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln). Seine Promotion an der University of Chicago wurde von Marshall Sahlins betreut. Ausgiebige Feldforschungen in Madagaskar im Rahmen eines zwanzigmonatigen Fulbright-Stipendiums resultierten 1996 in seiner Doktorarbeit The Disastrous Ordeal of 1987: Memory and Violence in Rural Madagascar (dt. Die katastrophale Tortur von 1987: Erinnerung und Gewalt im ländlichen Madagaskar), in der Graeber sich mit der anhaltenden sozialen Spaltung zwischen den Nachfahren des Adels und den Nachfahren ehemaliger Sklaven befasst.
Seit Mai 2005 arbeitete Graeber an der Herausgabe zweier Bücher: Reinventing Revolution (dt. Revolution neu erfinden, erschienen als Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus) und Direct Action: An Ethnography (dt. Direkte Aktion: Eine Ethnografie). Zusammen mit Giovanni Da Col gründete er 2011 die Zeitschrift Hau: Journal for Ethnographic Theory, als deren Mitherausgeber er bis zum Skandal um Da Cols Führungsstil Anfang 2018 fungierte. Da Col wurden als Chefredakteur unter anderem die Ausbeutung und das Mobbing von Mitarbeitern vorgeworfen; mehrere ehemalige Mitarbeiter und Mitglieder des Editorial Boards hatten Da Col dafür öffentlich angegriffen. Im Juni 2018 veröffentlichte Graeber eine Entschuldigung, in der er sich von Da Col distanzierte. Er bat zudem um Verzeihung dafür, sich nicht früher kritisch mit dem Arbeitsklima in der Redaktion auseinandergesetzt, Warnsignale zu lange ignoriert und mit seinem Namen zur Aufrechterhaltung der fachweiten Reputation von Hau beigetragen zu haben.[5]
Graeber war ein bekannter sozialer und politischer Aktivist, der unter anderem 2002 an den Protesten gegen das Weltwirtschaftsforum in New York City teilnahm. Darüber hinaus war er Mitglied der Gewerkschaft Industrial Workers of the World und der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft.[6]
Bis Juni 2007 war Graeber Professor für Anthropologie an der Yale University, wo die umstrittene Entscheidung getroffen wurde, Graebers Vertrag nicht zu erneuern.[7] Stattdessen lehrte er bis zum Sommer 2013 Sozialanthropologie am Goldsmiths College der Universität London[8] und wechselte daraufhin an die anthropologische Fakultät der London School of Economics.[9]
Graeber war ab April 2019 mit der Künstlerin und Autorin Nika Dubrovsky verheiratet,[10] mit der er die Buchreihe Anthropology4Kids herausgab, die Kindern ethnologische Themen und Fragestellungen vermittelt.[11] Am 2. September 2020 wurde Graeber auf einer Urlaubsreise in ein venezianisches Krankenhaus eingeliefert. Dort verstarb er kurz vor Mitternacht an inneren Blutungen.[12] Seine Partnerin gab später als Todesursache eine nekrotisierende Pankreatitis an und spekulierte über einen Zusammenhang mit COVID-19.[13]
Graeber kritisiert in seinen Werken aus der Perspektive des Anthropologen die Fundamente des ökonomisch-gesellschaftlichen Systems. Es würde Menschen zu sinnloser Beschäftigung en masse statt zu sinnfüllender Arbeit in Maßen verurteilen:
„In the year 1930, John Maynard Keynes predicted that, by century’s end, technology would have advanced sufficiently that countries like Great Britain or the United States would have achieved a 15-hour work week. There’s every reason to believe he was right. In technological terms, we are quite capable of this. And yet it didn’t happen. Instead, technology has been marshaled, if anything, to figure out ways to make us all work more. In order to achieve this, jobs have had to be created that are, effectively, pointless. Huge swathes of people, in Europe and North America in particular, spend their entire working lives performing tasks they secretly believe do not really need to be performed. The moral and spiritual damage that comes from this situation is profound. It is a scar across our collective soul. Yet virtually no one talks about it.“
„1930 sagte John Maynard Keynes voraus, dass die Technologie bis zum Ende des Jahrhunderts so weit fortgeschritten sein würde, dass Länder wie Großbritannien oder die Vereinigten Staaten eine 15-Stunden-Woche erreicht haben würden. Alles deutet darauf hin, dass er recht hatte. Technologisch gesehen sind wir hierzu in der Lage. Dennoch passierte dies nicht. Stattdessen wurde Technologie dafür eingesetzt, dass wir alle mehr arbeiten. Um dies zu erreichen, mussten Jobs geschaffen werden, die im Resultat sinnlos sind. Große Mengen an Menschen, insbesondere in Europa und Nordamerika, verbringen ihr gesamtes Arbeitsleben damit, Tätigkeiten auszuführen, von denen sie heimlich denken, dass sie eigentlich nicht getan werden müssten. Der moralische und spirituelle Schaden, der aus dieser Situation entsteht, ist schwerwiegend. Es ist eine Wunde in unserer kollektiven Seele. Doch praktisch niemand spricht hierüber.“[14]
Anschließend an die Interpretation der Finanzwirtschaft beschäftigte sich Graeber mit dem Homo oeconomicus, wie er nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften, sondern davon abgeleitet auch in der Verhaltensforschung an Menschen und Tieren angenommen wird. Er bezieht sich darin insbesondere auf Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und spricht sich gegen radikalen Neo-Darwinismus aus, für den er Richard Dawkins und Daniel Dennett ansetzt. Graeber proklamiert ein Prinzip der spielerischen Freiheit, laut dem jegliches Leben „unter gewissen Umständen ein Ziel darin hat, seine komplexesten Fähigkeiten auszuüben.“[15] Seine erste Veröffentlichung zum Thema war ein Essay im Februar 2014.
Graeber nahm aktiv an der öffentlichen Debatte um Auswege aus der Klimakrise teil. So war er Mitunterzeichner eines im Dezember 2018 veröffentlichten offenen Briefes, in welchem der Politik ein Scheitern bei der Thematisierung der Krise vorgeworfen und dazu aufgerufen wird, sich Bewegungen wie Extinction Rebellion anzuschließen und einen Konsumverzicht zu leisten.[16]
Personendaten | |
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NAME | Graeber, David |
ALTERNATIVNAMEN | Graeber, David Rolfe (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | US-amerikanischer Ethnologe und Anarchist |
GEBURTSDATUM | 12. Februar 1961 |
GEBURTSORT | New York City |
STERBEDATUM | 2. September 2020 |
STERBEORT | Venedig |
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