Manfred Genditzki (* 28. Mai 1960 in Kalübbe, Gemeinde Breesen, Kreis Altentreptow, DDR[1]) ist ein deutsches Justizopfer. Er wurde im Mai 2010 erstmals wegen vermeintlichen Mordes an der 87-jährigen Rentnerin Lieselotte Kortüm aus Rottach-Egern in einem Indizienprozess zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Allerdings waren schon früh Zweifel an seiner Täterschaft öffentlich geworden.[2][3][4]
Am 12. August 2022 beschloss das Landgericht München I die Wiederaufnahme des Verfahrens und ordnete die sofortige vorläufige Freilassung Genditzkis an.[5] Der Prozess begann am 26. April 2023 und endete am 7. Juli 2023 mit einem Freispruch.[6]
Manfred Genditzki ist in zweiter Ehe mit einer Ukrainerin verheiratet und Vater von drei Kindern.[1] Er war Hausmeister in der Wohnanlage, in der Lieselotte Kortüm wohnte, und erledigte für sie Dinge des täglichen Lebens wie Einkaufen, Zubereitung von Mahlzeiten und Wäschewaschen.[4] Nachdem Genditzki sie am 28. Oktober 2008 von einem Klinikaufenthalt nach Hause gefahren hatte – bei dieser Gelegenheit hatte sie sich an einer nicht genau lokalisierbaren Stelle im Fahrzeug den Kopf gestoßen –, verabschiedete er sich nach eigenen Angaben dort gegen 15 Uhr von ihr, weil er seine kranke Mutter besuchen wollte. Zuvor rief er den Pflegedienst an, um die Rückkehr von Lieselotte Kortüm aus dem Krankenhaus zu melden. Wie jeden Tag betrat um 18:30 Uhr eine Pflegekraft die Wohnung; sie fand Lieselotte Kortüm voll bekleidet tot in der Badewanne.[4]
Bei der Obduktion der Leiche fand man Hämatome am Hinterkopf mit Einblutungen unter unverletzter Kopfhaut,[4] was nicht ungewöhnlich ist, da die Verstorbene gerinnungshemmende Medikamente nahm.[7] Als Todesursache wurde Ertrinken nach einem unglücklichen Sturz in die Badewanne angenommen. Die Leiche wurde am Tag darauf eingeäschert.[7]
Das Ergebnis der Obduktion veranlasste die Staatsanwaltschaft zu der Annahme, Genditzki habe die alte Dame getötet, um zu vertuschen, dass er während ihres Klinikaufenthaltes in ihrer Wohnung Geld unterschlagen habe, was ihm ermöglicht habe, an dem Tag, als Lieselotte Kortüm ins Krankenhaus kam, einem Bekannten eine Schuld von 8000 Euro zurückzuzahlen. Im Februar 2009 wurde Genditzki in Untersuchungshaft genommen.[4]
Die Anklageschrift ging davon aus, Lieselotte Kortüm habe am 28. Oktober 2008 die angebliche Unterschlagung festgestellt und Genditzki deswegen Vorwürfe gemacht. In der Hauptverhandlung stellte sich jedoch heraus, dass aus dem Vermögen von Lieselotte Kortüm kein Geld fehlte; die Rückzahlung stammte aus nachvollziehbaren, völlig legalen Quellen.[7][8] Die Staatsanwaltschaft begründete den Mordvorwurf daraufhin damit, der Angeklagte habe die Frau im Verlauf eines Streits geschlagen und sie getötet, um diese Körperverletzung zu verdecken. Die Schwurgerichtskammer am Landgericht München II folgte dem und verurteilte Genditzki am 12. Mai 2010 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe.[1]
Der Bundesgerichtshof hob das Urteil mit Beschluss vom 12. Januar 2011 auf und verwies die Sache wegen eines Verfahrensfehlers an eine andere Kammer des Landgerichts zurück. Der Austausch der Bezugstat bei Verdeckungsmord sei eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes, auf die das Gericht gemäß § 265 StPO in der Hauptverhandlung habe hinweisen müssen.[9][10]
Die neue Hauptverhandlung endete am 17. Januar 2012 mit der abermaligen Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes.[1][11] Die Kammer unter der Vorsitzenden Richterin Petra Beckers sah es als erwiesen an, dass Genditzki und Kortüm in einen Streit geraten seien, bei dem Genditzki der Frau entweder einen Schlag auf den Kopf versetzt oder sie so gestoßen habe, dass sie gegen einen harten Gegenstand gefallen sei und sich die zwei Blutergüsse am Kopf zugezogen habe. In Panik und mit dem Gedanken „Ich hole Hilfe“ habe Genditzki zweimal kurz hintereinander am Festnetztelefon[1] von Lieselotte Kortüm die Nummer des Hausarztes gewählt, aber sofort wieder aufgelegt. Aus Furcht, von Kortüm angezeigt zu werden, habe er Wasser in die Badewanne laufen lassen und sie ertränkt, indem er sie mehrere Minuten unter Wasser gedrückt habe.[12] Die Revision hiergegen wurde als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe (§ 349 Abs. 2 StPO).[13][14][11]
Für Prozessbeobachter und Medienvertreter blieben Zweifel an der Schuld des Verurteilten. Beobachter der Hauptverhandlung hatten fest mit einem Freispruch gerechnet.[3]
Die Verteidigung hatte geltend gemacht, dass der Tod der alten Dame, wie zunächst auch von der Staatsanwaltschaft angenommen, ein Haushaltsunfall gewesen sei. Lieselotte Kortüm habe nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus verschmutzte Wäsche in der Badewanne einweichen wollen.[15] Dabei habe sie einen Schwächeanfall erlitten und sei in die Wanne gestürzt. Ein psychologisches Gutachten wies Genditzki als friedfertig aus.[7] Den Anruf beim Hausarzt erklärte er damit, er habe mitteilen wollen, dass Lieselotte Kortüm aus der Klinik entlassen und wieder zu Hause sei. Er habe aufgelegt, als nur der Anrufbeantworter der Praxis in der Leitung war.[12]
Das Verfahren wurde in mehreren überregionalen Medien als Justizirrtum dargestellt.[16][17][18][8][19]
Ein Tatwerkzeug wurde weder identifiziert noch gefunden. Die Plastiktüten mit Wäsche, die Lieselotte Kortüm aus der Klinik mitgebracht hatte, waren ungesichtet entsorgt und weder die Temperatur der Leiche noch die des Wassers in der Wanne gemessen worden.[7]
2015 beauftragten Angehörige Genditzkis den Kriminalisten und Profiler Axel Petermann damit, den Fall erneut zu untersuchen.[20]
Genditzkis Strafverteidigerin reichte 2018 einen seit 2015 vorbereiteten Antrag[21] auf Wiederaufnahme des Verfahrens ein.[8][22] Durch Spenden wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglicht, einschließlich neuer Gutachten.[5]
Der SPD-Landtagsabgeordnete Franz Schindler lud am 26. Juli 2018 zu einer Pressekonferenz in den bayerischen Landtag, bei der er seine Zweifel an dem rechtskräftigen Urteil erläuterte.[23] Dabei wurde eine Computersimulation von Syn Schmitt (Universität Stuttgart) präsentiert, wie Kortüm ohne Einwirkung eines anderen in die Badewanne gestürzt sein könne, die diametral den Annahmen im Urteil gegen Genditzki widersprach.[24][25]
Die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen fragte in einem Artikel der Tageszeitung Die Welt vom 30. Juli 2018 unter Hinweis auf die Fälle Gustl Mollath, Ulvi Kulaç und den Todesfall Rudolf Rupp: „Kommt auf die bayerische Justiz der nächste Skandal zu?“ Mit Blick auf die Computersimulation schrieb sie: „Geprägt von eiserner Rechthaberei und oft blinder Uneinsichtigkeit, mussten sich Richter und Staatsanwälte in der Vergangenheit schon mehrfach dem Fortschritt in der Kriminaltechnik beugen. Nun der Fall Genditzki. Er treibt viele Leute um, weil sie das Märchen vom mordenden Hausmeister nicht überzeugt.“[26]
Am 11. Juni 2019 reichte Genditzkis Verteidigerin Regina Rick einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ein, der sich auf die Berechnungen Syn Schmitts und auf eine erst in jüngster Zeit bekannt gewordene Zeugenaussage stützte, dass Lieselotte Kortüm die Angewohnheit hatte, ihre Wäsche in der Badewanne einzuweichen.[27] Zudem belegte ein Arztbericht, dass Kortüm wiederholt kurzzeitige Ohnmachtsanfälle hatte, die zu Stürzen führten.[28] Am 1. Dezember 2020 verwarf die 1. Strafkammer am Landgericht München I den Antrag als unzulässig. Die vorgebrachten neuen Beweismittel seien nicht geeignet, das angefochtene Urteil zu erschüttern. Es seien keine neuen Tatsachen oder Beweise vorgebracht worden, die einen Freispruch oder eine Strafmilderung bewirken könnten (§ 359 Nr. 5 StPO). Auf die Beschwerde der Verteidigung hob das Oberlandesgericht München diesen Beschluss am 23. September 2021 auf. Das von der Verteidigung vorgelegte Sachverständigengutachten sei als zulässiges neues Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO anzusehen. Das Landgericht habe nun zumindest Beweis durch Anhörung dieses Sachverständigen zu erheben. Erst danach könne es eine Bewertung und Einordnung des Gutachtens vornehmen und über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags entscheiden. Eine Unterbrechung der Strafvollstreckung sei vor der nun anstehenden Bewertung des Beweismittels allerdings nicht möglich.[29]
Mit Beschluss vom 12. August 2022 (AZ: 1 Ks 121 Js 158 369/19) ordnete das Landgericht München I die Wiederaufnahme des Verfahrens an und entließ Genditzki mit sofortiger Wirkung aus der im Februar 2009 begonnenen Haft. Neue Erkenntnisse, insbesondere aus der Thermodynamik, legten inzwischen ein anderes Bild der Vorgänge nahe. Insbesondere verschiebe eine Rekonstruktion der Temperatur des Badewassers den Todeszeitpunkt deutlich aus dem Rahmen der bisherigen Annahmen. Ergänzend habe die computergestützte biomechanische Simulation gezeigt, dass auch ein Sturzgeschehen möglich gewesen sei.[30][31][32]
Am 26. April 2023 begann der neue Prozess am Landgericht München I, der am 7. Juli 2023 mit einem Freispruch endete, den nun auch die Staatsanwaltschaft beantragte.[6] Die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl sprach in ihrer mündlichen Urteilsbegründung von einer „Kumulation von Fehlleistungen“.[33]
Die Staatskasse muss Genditzki für die erlittene Freiheitsentziehung von etwa dreizehneinhalb Jahren entschädigen.[34][35] Die Entschädigung beträgt nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) „für den Schaden, der nicht Vermögensschaden ist“, 75 Euro für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung (§ 7 Abs. 3 StrEG). Daneben kann nach § 7 Abs. 2 StrEG Ersatz für Vermögensschäden verlangt werden, zum Beispiel Verdienstausfall einschließlich Einbußen bei der Altersvorsorge.
Personendaten | |
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NAME | Genditzki, Manfred |
KURZBESCHREIBUNG | deutsches Justizopfer |
GEBURTSDATUM | 28. Mai 1960 |
GEBURTSORT | Kalübbe, Gemeinde Breesen, Kreis Altentreptow, DDR |
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