Lützerath Stadt Erkelenz Koordinaten: 51° 3′ 32″ N, 6° 25′ 37″ O
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Höhe: | ca. 95 m |
Einwohner: | 3 (31. Dez. 2022)[1] |
Postleitzahl: | 41812 |
Vorwahl: | 02164 |
Lützerath im Abbaubereich Tagebau Garzweiler
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Lützerath von Südwesten vor dem Abrissbeginn (2019)
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Lützerath war ein Weiler der Stadt Erkelenz in Nordrhein-Westfalen. Das Gelände steht im Eigentum des Unternehmens RWE Power.
Der Energieversorgungskonzern RWE ließ Lützerath im Januar 2023 vollständig abreißen, um den Tagebau Garzweiler auszudehnen. Die Umsiedlung des Ortes begann 2006 und wurde im Oktober 2022 endgültig abgeschlossen. Gegen den Abriss des Weilers und die Abbaggerung des Gebietes regt sich bis heute Widerstand. Unter Klimaschutzaktivisten entwickelte sich für den Ort der analog zum Diminutiv „Hambi“ für den Hambacher Forst gebildete Name Lützi.[2] Seit 2021 wurde in der Bundes- und Landespolitik vermehrt über den Erhalt des Weilers diskutiert. Anfang Oktober 2022 entschieden das Bundes- und das Landeswirtschaftsministerium endgültig, dass die Kohle unter dem Gebiet Lützeraths durch die RWE Power AG bergbaulich in Anspruch genommen werden dürfe. Der Umsiedlungszielort war, wie für den bereits abgerissenen, unmittelbar südöstlich gelegenen Nachbarort Immerath, das weiter westlich gelegene neue Dorf Immerath (neu). Lützerath wird also an anderer Stelle als eigenständiger Ortsteil nicht neu errichtet.
Im Norden grenzen Keyenberg und das bereits vollständig abgebaggerte Alt-Borschemich an Lützerath, im Osten Alt-Spenrath, im Süden Alt-Immerath und im Südwesten Holzweiler. Der Weiler liegt zwischen Düsseldorf und Aachen und ist von beiden Städten aus in rund 40 Minuten mit dem Pkw zu erreichen.
Die Ortschaft wurde erstmals 1168 in einer Urkunde als Lutzelenrode erwähnt. Aus dem Jahr 1651 ist der heutige Name überliefert. Die Form, wie sie in der urkundlichen Ersterwähnung angegeben ist, lässt sich als fossilisierte Dativform deuten, die im Althochdeutschen etwa als bi demo luzzilen rode, d. h. „bei der kleinen Rodung“, zu rekonstruieren ist. Althochdeutsch luzzil entspricht etymologisch dem nicht mehr gebräuchlichen neuhochdeutschen Wort lützel, d. h. klein (vgl. englisch little oder plattdeutsch lütt). Der Umlaut ist als i-Umlaut, also durch regressive Assimilation des u an das ehemalige i in der Nebensilbe entstanden.[3][4] Eine andere Deutung ist, dass in dem Ortsnamen der althochdeutsche Personenname Lutzelin, abgeleitet von Luzo (Ludwig), enthalten sei, wonach der Name „Rodung des Luzelin“ bedeute. Wie Immerath und weitere benachbarte Ortschaften gehört der Weiler zur Gruppe der Ortsnamen mit dem Suffix -rath.
Der Neuwerker oder Paulshof gehörte 1135 zur Abtei der Benediktinerinnen in Neuwerk.
Der Wachtmeisterhof war von 1265 bis 1802 im Besitz des Klosters der Zisterzienserinnen in Duissern bei Duisburg. Seit einigen Generationen gehört er einer Anwohnerfamilie.[5]
Der Junkershof gehörte zunächst den Edelherren von Wevelinghoven, diese starben aber Ende des 14. Jahrhunderts aus und deren Herrschaft gelangte an die Grafen von Bentheim-Tecklenburg. Bis 1797 war der Hof in gräflichem Besitz.
Am 27. Februar 1945 nahmen US-Soldaten des 116. Regiments der 29. US-Infanteriedivision Lützerath während der Operation Grenade ein.
Lützerath gehörte jahrhundertelang zur Gemeinde und Pfarre Immerath. Seine Postleitzahl war bis 1993 die 5141, anschließend 41812.[6]
Die größte Einwohnerzahl erreichte Lützerath 1970 mit 105 Menschen. 2010 lebten lediglich noch 50, Anfang 2021 11 Einwohner im Ort.[7]
Seit 2020 lässt der Tagebaubetreiber RWE Power AG in Lützerath Bäume und Sträucher roden sowie Häuser abreißen. Im Rahmen der Proteste von Braunkohlegegnern und Klimaschützern wurden eine Mahnwache installiert, Dorfspaziergänge und Demonstrationen veranstaltet und es kam wiederholt zu Hausbesetzungen.[8]
Im April 2021 kündigte der ortsansässige Landwirt Eckhard Heukamp an, die Inanspruchnahme seines Eigentums anzufechten. Vor dem Verwaltungsgericht Aachen wurde Widerspruch gegen einen „Grundabtretungsbeschluss“ eingelegt. Heukamps Anwalt sah die Enteignung, unter anderem in Bezug auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2013, als rechtswidrig an, denn die Braunkohleplanung der 1990er Jahre entspricht seiner Auffassung nach nicht mehr den Maßgaben neuerer Gesetze zum Klimaschutz und Kohleausstieg.
RWE Power wollte den Ausgang einer Klage nicht abwarten und beantragte eine „vorzeitige Besitzeinweisung“ zum 1. November 2021 bei der bergbaurechtlich zuständigen Bezirksregierung Arnsberg.[9] Diese wies dem Unternehmen zum 1. November 2021 vorzeitig in den Besitz dieser Grundstücke ein. Das Verwaltungsgericht Aachen lehnte die Eilanträge Heukamps und zweier Mieter aus Lützerath dagegen ab.[10] In der Folge legten die Betroffenen Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Münster ein. Zunächst wollte das Gericht bis zum 7. Januar 2022 eine Entscheidung treffen. RWE Power hatte dem Gericht gegenüber zugesagt, solange von der Räumung der Beschwerdeführer abzusehen.[11] Am 20. Dezember 2021 erklärte das Gericht im Hinblick auf eine nicht mögliche Anhörung eines Berichterstatters bis Anfang Januar 2022, dass es den Fall zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden wolle. Es untersagte RWE Power, auf den Grundstücken der Kläger bis dahin Abrissarbeiten oder sonstige Vorbereitungsmaßnahmen durchzuführen.[12] Am 28. März 2022 bestätigte das OVG Münster die Entscheidung des VG Aachen mit der Begründung, „dass die energiepolitische Grundentscheidung zugunsten der Braunkohleförderung und -Verstromung mit dem verfassungsrechtlichen Klimaschutzgebot vereinbar“ (Zusammenfassung des WDR) sei.[13] Die in Lützerath befindlichen Aktivisten zeigten sich darüber enttäuscht und kündigten an, sich einer Räumung der Grundstücke Heukamps durch RWE Power entgegenzustellen.[14]
Auf dem Grundstück des Landwirts war bereits 2020 ein Protestcamp eingerichtet worden, das unter anderem die vorzeitige Inbesitznahme durch RWE erschweren soll. Dafür hat sich das Bündnis Lützerath lebt[15] aus lokalen und deutschlandweiten Bewegungen gebildet, in dem unter anderem Ende Gelände und Alle Dörfer bleiben beteiligt sind. Zum Jahresende 2021 wurde zudem einer der ins Eigentum von RWE Power übergegangenen Höfe[16] von den Umweltaktivisten besetzt. Im gleichen Jahr erhielt die Bewegung vor Ort Unterstützung durch den Besuch von Klimaaktivistinnen wie Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Vanessa Nakate. Am 31. Oktober 2021 kam es zeitgleich mit dem Beginn der UN-Klimakonferenz in Glasgow zu einer Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern.[17] Am 23. April 2022 fand in Lützerath eine Demonstration mit über 2000 Teilnehmern statt. Anlass war Heukamps Verkauf seiner Grundstücke an RWE Power, nachdem er den Prozess zur Abweisung der Enteignung verloren hatte.[18]
Die seit Dezember 2021 amtierende Bundesregierung unter Olaf Scholz beabsichtigt den Erhalt der nördlich von Lützerath bedrohten Dörfer. Die Entscheidung über Lützerath wolle die Regierung der Judikative überlassen.[19] Auch die seit Juni 2022 regierende Landeskoalition unter Ministerpräsident Hendrik Wüst spricht sich für den Erhalt der nördlich gelegenen Dörfer aus, erwähnt Lützerath in ihrem Koalitionsvertrag aber nicht.[20] Der Deutsche Bundestag sprach sich im Juli 2022 für den Erhalt des Weilers aus. Er bezog sich dabei auf den in Folge des Überfalls Russlands auf die Ukraine von der Bundesregierung vorgesehenen Plan, den aus Gas gewonnenen Strom weitgehend durch andere Energieträger, darunter Kohle, zu ersetzen und stellte klar: „Es handelt sich um eine kurzfristige Maßnahme. […] Insofern es im Zuge der Anwendung […] zu einer Verschlechterung der Klimabilanz kommt, gilt es entsprechende negative Folgewirkungen an anderer Stelle aufzufangen, etwa durch die Vermeidung weiterer Abbauten von Braunkohletagebauflächen.“. Der Bundestag forderte daher die Bundesregierung auf, Lützerath zu erhalten.[21][22][23]
Auch eine im August 2022 erschienene Kurzstudie der TU Berlin und der Europa-Universität Flensburg im Auftrag von Europe Beyond Coal kam zu dem Schluss, dass trotz Gasknappheit der Erhalt von Lützerath gewährleistet werden könne, da keine energiewirtschaftliche Notwendigkeit für die Ausweitung des Tagebaus Garzweiler II bestehe.[24] Eine Inanspruchnahme der Flächen Lützeraths zum Braunkohleabbau mache nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zudem den deutschen Beitrag zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels unmöglich.[25] Gutachten im Auftrag der Landesregierung sahen eine Notwendigkeit für den Abbau. In verschiedenen Szenarien werde betrachtet, „ob Deutschland die Energiewende eher mit einer großen Elektrifizierung oder mit viel Wasserstoff“ schaffe. Jedoch reiche „die vorhandene Kohle in keinem der betrachteten Szenarien – wenn Lützerath bleibt.“[26]
Am 4. Oktober 2022 kündigten der RWE-Vorstandsvorsitzende Markus Krebber, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf einer gemeinsamen Pressekonferenz an, dass Lützerath abgebaggert werden solle.[27] Dafür sollen die übrigen, noch nicht geräumten Dörfer erhalten und der Ausstieg aus der Braunkohleverstromung von 2038 auf 2030 vorgezogen werden.[28][29] Die FDP beklagte, dass die Vereinbarung hinter verschlossenen Türen ohne Beteiligung des Bundestages getätigt worden sei, und sprach von einer Missachtung des Parlaments.[30][31] Auch inhaltlich gab es Kritik an den Gutachten, die in der Pressekonferenz als Entscheidungsgrundlage genannt wurden.[32]
Nachdem ein Gesetzentwurf der Bundesregierung durch die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP[33] ohne Gegenstimmen in diesen angenommen wurde, heißt es im entsprechenden Gesetz § 48 KVBG (Kohleverstromungsbeendigungsgesetz), das die Grundlage für den Abriss Lützeraths bietet:
„Die energiepolitische und energiewirtschaftliche Notwendigkeit und der vordringliche Bedarf zur Gewährleistung einer sicheren und zuverlässigen Energieversorgung werden für den Tagebau Garzweiler II in den Grenzen der Leitentscheidung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zur Zukunft des Rheinischen Braunkohlereviers/Garzweiler II vom 23. März 2021 festgestellt, soweit durch diese Feststellung der Erhalt der Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich, Unterwestrich und Berverath sowie der Holzweiler Höfe (Eggerather Hof, Roitzerhof, Weyerhof), jeweils mit einem angemessenem Abstand, bei der weiteren Tagebauführung sichergestellt wird.“[34]
Am 20. Dezember 2022 erließ der Kreis Heinsberg eine Allgemeinverfügung, nach der das Betreten Lützeraths und der Zufahrtsstraßen sowie der Aufenthalt dort ab dem 23. Dezember 2022 offiziell nicht mehr erlaubt sein sollen. Weiter wird erklärt, ab dem 10. Januar 2023 auch unmittelbaren Zwang zum Auflösen der Besetzung anzuwenden.[35]
Das Landesinnenministerium sah Ende November 2022 eine Räumung des Weilers im Januar 2023 vor,[36] die bis Ende Februar abgeschlossen sein sollte.[30] Um die Räumung zu verhindern, gründete sich ein Aktionsbündnis unter anderem mit Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände und Interventionistischer Linke.[37][38] Die ebenfalls beteiligte Initiative Alle Dörfer bleiben rief zu „entschlossenem und friedlichem Protest“ gegen die Räumung auf[39].
In der ersten Januarwoche 2023 begannen vorbereitende Arbeiten für die geplante Räumung Lützeraths, unter anderem wurden Barrikaden auf Zufahrtsstraßen entfernt. Dabei kam es zu Zusammenstößen, bei denen Personen verletzt wurden.[40][41] Am 8. Januar fand ein „Dorfspaziergang“ mit mehr als 2000 Teilnehmern statt. Am selben Abend wurden Polizisten laut dem Polizeipräsidium Aachen mit Steinen beworfen.[42]
Vor Beginn der Räumung befanden sich laut Aussagen der Initiative „Lützerath lebt“ 700 Demonstranten im besetzten Weiler;[43] die Polizei sprach von etwa 300 Personen.[44] Am Morgen des 11. Januar riegelte die Polizei den Zugang zum Weiler weiträumig ab und begann, mit mehreren Hundertschaften in das Weilerinnere vorzurücken.[45] Der Journalistenverband DJU sprach wiederholt von Einschränkungen der Pressefreiheit durch Polizei und private Sicherheitskräfte.[46][47]
Gleichzeitig schlossen sich über 500 Wissenschaftler einem offenen Brief der Scientists for Future an, in dem „substanzielle wissenschaftliche Zweifel an der akuten Notwendigkeit einer Räumung“ und der Erschließung der Braunkohle unter Lützerath, die für Energiesicherheit und Netzstabilität nicht nötig sei, ausgedrückt werden.[48]
Am 12. Januar löste die Polizei einen nahe Lützerath stattfindenden Gottesdienst auf, der sich als politische Versammlung herausgestellt habe.[49] Die katholischen und evangelischen Kirchenverbände der Region forderten ebenfalls ein Moratorium der Räumung.
Am Abend des 12. Januar war die Räumung der überirdischen Strukturen weitgehend abgeschlossen.[50] Eine Herausforderung für die Räumungsarbeiten war ein Tunnel, der sich unter der Zufahrtsstraße zum besetzten Weiler befand. Laut Schätzungen von Journalisten soll der Tunnel über einen Zeitraum von zwei Jahren errichtet worden sein. In einem von Aktivisten veröffentlichten Video sagten sie, sie seien bereit, sich im Tunnelsystem festzuketten, um die Räumung möglichst lange zu verzögern.[51][52][53] Das Technische Hilfswerk (THW) schloss am gleichen Tag eine Erkundung ab.[54]
Ein Bündnis mehrerer Umwelt- und Naturschutzorganisationen sowie lokaler Initiativen hatte zu einer Großdemonstration unter dem Motto Auf nach Lützerath! Gegen die Räumung – für Kohleausstieg & Klimagerechtigkeit aufgerufen. Gruppen aus dem ganzen Bundesgebiet und aus benachbarten Ländern organisierten Anreisen in das Rheinische Revier. Etwa 15.000 (Polizei) bzw. 35.000 bis 50.000 (Veranstalter) Menschen zogen am 14. Januar von Mönchengladbach-Wanlo über das benachbarte Keyenberg in Richtung eines Feldes zwischen Keyenberg und Lützerath, wo die Abschlussveranstaltung, unter anderem mit einem Redebeitrag Greta Thunbergs stattfand.[55] Im Laufe des Nachmittags gelang es mehreren Demonstranten, zur Abbruchkante des Tagebaus vorzudringen, mehrere Hundert davon bewegten sich auf das weiterhin besetzte und abgezäunte Lützerath zu, während die Polizei unter Einsatz unmittelbaren Zwangs versuchte, diese mit Schilden und Wasserwerfern abzuhalten.[56]
Im Vorfeld hatte sich die Polizei NRW auf einen Großeinsatz vorbereitet und im Rahmen der Amtshilfe Verstärkung aus anderen Bundesländern sowie „Spezialkräfte von Feuerwehr und THW“[57] angefordert. In Ermangelung geländegängiger Fahrzeuge nutzte die Polizei RWE-Fahrzeuge als Gefangenentransporter, die laut RWE-Angaben in Rechnung gestellt würden. Dies und die Übergabe „hochwertiger Gegenstände“ aus dem geräumten Aktivistenlager an RWE sorgten für Kritik am Einsatz.[58]
Schlusskundgebung
Rede von Greta Thunberg
Am Abend des 15. Januar war die Räumung des Ortes bis auf die Tunnelanlagen abgeschlossen. Medienberichten zufolge habe die Polizei die Verantwortung der Tunnelräumung an das THW und die Werkfeuerwehr von RWE übergeben. Dies sei durch Deklaration als „Rettung“ erfolgt.[59][60]
Am 16. Januar verließen die beiden letzten Aktivisten die Tunnelanlage.[61] Anschließend begann der Abriss der verbliebenen Gebäude sowie die Rodung unter anderem von Bäumen im Weiler. Am 19. Januar 2023 wurde das letzte Gebäude im Ort abgerissen.[62]
Der präsentierte Inhalt des Wikipedia-Artikels wurde im 2023-01-27 basierend auf extrahiert https://de.wikipedia.org/?curid=3281101