Aufstand der Gruppe Wagner in Russland

Aufstand der Gruppe Wagner in Russland

Dunkelgrau: Vom Aufstand der Söldnergruppe Wagner betroffene Gebiete in Russland
Datum 23. Juni 2023 bis 24. Juni 2023
Ort Russland
Casus Belli Angeblicher Angriff der russischen Streitkräfte auf Wagner-Truppen
Ausgang Verhandlungen der russischen Regierung mit Jewgeni Prigoschin unter der Vermittlung von Aljaksandr Lukaschenka
Konfliktparteien

Эмблема ЧВК Вагнер.svg Gruppe Wagner

Flag of the Ministry of Defence of the Russian Federation.svg Russisches Verteidigungsministerium
Flag of Russia's Chief of Staff.svg Teile des russischen Generalstabs
Banner of the Armed Forces of the Russian Federation (obverse).svg Streitkräfte Russlands
Flag of National Guard of the Russian Federation.svg Nationalgarde
Flag of Kadyrovites.gif Kadyrowzy
Flag of the Russian Federal Security Service.svg Inlandsgeheimdienst FSB[1]

Befehlshaber

Jewgeni Prigoschin

Verteidigungsminister Sergei Schoigu,
Generalstabschef Waleri Gerassimow

Truppenstärke
laut Eigenaussage 25.000 Söldner[2]
8.000 Wagner-Kämpfer (laut britischen Geheimdiensten)[3]
unklar
Verluste

Laut Militärbeobachter:
1 KAMAZ-Lastwagen
1 Ural-Lastwagen
2 UAZ-PKW
1 Infanterie-Mobilitätsfahrzeug[4]
Eigene Angaben:
2 Soldaten (der russischen Armee, die sich Wagner angeschlossen hatten) gefallen, mehrere Söldner verwundet[5][6]

Laut Militärbeobachter:
1 Il-22M (Flugzeug)
1 Mi-8 (Helikopter)
3 Mi-8MTPR-1 (Helikopter)
1 Mi-35M (Helikopter)
1 Ka-52 (Helikopter)[4]

mind. 13 Soldaten gefallen[7]

Vom 23. bis 24. Juni 2023 kam es vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine zu einem Aufstand der Gruppe Wagner in Russland. Jewgeni Prigoschin, Chef der paramilitärischen Organisation Gruppe Wagner, kündigte an, Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow aus ihren Ämtern zu entfernen bzw. in einem „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau vorzurücken, sollten sie nicht freiwillig von ihren Machtpositionen zurücktreten. Am 24. Juni besetzte die Gruppe Wagner kampflos Militäreinrichtungen in Rostow am Don und rückte über Woronesch auf die russische Hauptstadt vor. Der russische Präsident Wladimir Putin verurteilte die aufständischen Bestrebungen als Verrat an Russland. Nach Vermittlungen durch den belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka brach Prigoschin am Abend des 24. Juni den Marsch auf Moskau ab; den Aufständischen sei Straffreiheit zugesagt worden; Prigoschin werde nach Belarus ins Exil gehen.

Hintergrund

Jewgeni Prigoschin (2010)

Während der russischen Invasion in die Ukraine 2022, an der auch seine Gruppe Wagner u. a. in der Schlacht um Bachmut beteiligt war, geriet Prigoschin zunehmend mit dem russischen Verteidigungsministerium in Konflikt. Bereits Monate vor dem Aufstand zeigte Prigoschin Unzufriedenheit wegen Nachschubproblemen und mangelnder Unterstützung. Im Streit zwischen Prigoschin und Minister Schoigu um die Verteilung von Munition fand, laut geleakten US-Geheimdokumenten, im Februar 2023 ein Schlichtungsversuch durch Staatspräsident Putin statt.[8]

Nach der Verkündung der Besetzung von Bachmut Ende Mai 2023 ordnete Prigoschin eine Kampfpause für die Wagner-Söldner an und übergab die eroberten Positionen an das russische Militär. Der geordnete Rückzug wurde aber laut seinen Aussagen gestört: Die Abzugsroute sei an rund einem Dutzend Stellen durch das russische Militär vermint worden. Bei der Räumung der Minen seien seine Kämpfer am 17. Mai 2023 beschossen worden, woraufhin sie das Feuer erwidert hätten. Die Söldner nahmen schließlich den russischen Kommandeur der 72. selbstständigen motorisierten Schützenbrigade, Oberstleutnant Roman Gennadjewitsch Wenewitin, gefangen. Dieser behauptete in einem von Wagner veröffentlichten Video, der Beschuss sei nur aufgrund persönlicher Abneigung gegen die Gruppe erfolgt. Die Verminung soll laut Prigoschin hingegen von hohen Stellen im Verteidigungsministerium angeordnet worden sein.[9][10] Am 10. Juni 2023 ordnete Verteidigungsminister Schoigu die Unterzeichnung von Militärverträgen durch alle „Freiwilligeneinheiten“ an, die in der Ukraine kämpfen. Vorgeblich sei dies nötig, um soziale Garantien zu ermöglichen. Ohne Unterzeichnung sei zudem eine weitere Teilnahme an den Kampfhandlungen in der Ukraine nicht mehr möglich, äußerte Schoigu. Dieser Aufforderung folgte die Wagner-Gruppe zunächst nicht, da Schoigu laut Prigoschin außer Stande sei, eine effiziente Militärstruktur zu organisieren, und man sich ihm daher nicht unterstellen wolle. Auch nachdem Präsident Putin diese Forderung unterstützt hatte, verweigerte Prigoschin die Unterschrift.[11][12] Am 17. Juni 2023 reichte er schließlich einen eigenen Vertrag beim Verteidigungsministerium ein und verlangte eine Stellungnahme Schoigus.[13]

Am 23. Juni 2023 beschuldigte Prigoschin das russische Verteidigungsministerium, einen Angriff auf seine Streitkräfte gestartet und eine „sehr große“ Zahl seiner Leute getötet zu haben.[14] In sozialen Medien kündigte er an, in einem „Marsch der Gerechtigkeit“ mit 25.000 Söldnern auf Moskau vorzurücken, und rief die russische Bevölkerung zum Widerstand gegen die militärische Führung um Verteidigungsminister Sergei Schoigu auf.[15] Gleichzeitig widersprach er den offiziellen Gründen für den Angriffskrieg. Entgegen den russischen Propaganda-Behauptungen sei Russland vor dem Beginn des Angriffskriegs im Februar 2022 überhaupt nicht durch die Ukraine gefährdet gewesen. Die angeblich „wahnsinnige Aggression“ vonseiten Kiews und der NATO habe es so nie gegeben. „Das Verteidigungsministerium versucht, den Präsidenten und die Öffentlichkeit zu täuschen“, sagte Prigoschin, nach dessen Meinung die sogenannte Spezialoperation andere Gründe habe: „Der Krieg war notwendig, damit Schoigu den Titel eines Marschalls erhält. […] Und nicht, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren.“ Außerdem hätten sich russische und prorussische Oligarchen Vorteile von dem Krieg erhofft. Auch erklärte Prigoschin, dass die täglichen Erfolgsmeldungen der russischen Streitkräfte über angeblich abgewehrte ukrainische Offensiven „kompletter, totaler Unsinn“ seien. Prigoschin erklärte, dass die ukrainische Armee durch ihre Gegenoffensive Truppen der russischen Streitkräfte in einigen Regionen zum Rückzug gezwungen habe und die russische Armee sich an den Fronten von Saporischschja und Cherson habe zurückziehen müssen.[16][17] Der Fokus des Aufstandes lag laut Prigoschin auf der Absetzung von Befehlshabern wie Schoigu, die den Präsidenten über die Lage in der Ukraine belügen würden.[18] Es sollte aber zugleich verhindert werden, dass dabei die Kampfhandlungen in der Ukraine unterbrochen werden.[19]

Nach Erkenntnissen von US-Geheimdiensten hat Prigoschin den Aufstand geplant und dafür Waffen und Munition in Grenznähe angehäuft.[20]

Verlauf

Einnahme von Rostow am Don

Am Morgen des 24. Juni 2023 überschritten Kräfte der Gruppe Wagner an mindestens zwei Stellen von den besetzten Gebieten in der Ukraine aus die russische Grenze ohne Widerstand der Grenztruppen und besetzten anschließend ein militärisches Flugfeld und das Hauptquartier der russischen Streitkräfte für den Militärbezirk Süd in Rostow am Don.[21] Rostow ist zugleich Hauptquartier der Militärführung im Krieg in der Ukraine und logistischer Knotenpunkt für die dort eingesetzten Truppen.[22] Bei diesem Vormarsch wurde auf russischem Gebiet auch ein Militärhubschrauber der russischen Streitkräfte abgeschossen.[23] Vom Hauptquartier des südlichen russischen Militärbezirks aus forderte Prigoschin in einem Gespräch mit Russlands Vize-Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow den Sturz von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.[19][23][24][25]

Der russische Inlandsgeheimdienst FSB leitete ein Strafverfahren wegen „Anstiftung zu einem bewaffneten Aufstand“ gegen Jewgeni Prigoschin ein.[1]

Vormarsch auf Moskau

In Erwartung des angekündigten Marsches auf Moskau wurde dort und in anderen russischen Regionen der Notstand ausgerufen. Auf der Fernstraße M4 wurden Straßensperren errichtet.[2][26] Die Wagner-Truppe drang zunächst in die Stadt Woronesch ein, auf halber Strecke zwischen Rostow am Don und Moskau.[2] Wagner-Truppen brachten dort wichtige Militäreinrichtungen unter ihre Kontrolle.[27] Bei Bogutschar wurde laut Augenzeugen eine Brücke der M4 durch die russische Armee gesprengt, um den Vormarsch zu verlangsamen. Zudem kam es zu Luftangriffen auf die Wagner-Söldner, die laut Prigoschin aufgrund fehlender Genauigkeit aber besonders Zivilisten trafen.[28] Später bestätigte der Gouverneur der Oblast Lipezk, dass Wagner-Söldner das Gebiet der Oblast erreicht hätten.[29] Die Wagner-Soldaten schossen insgesamt sechs Hubschrauber und ein Flugzeug der russischen Streitkräfte ab. Mehr als ein Dutzend russische Soldaten kamen ums Leben.[4]

Abbruch des Vormarsches und Rückzug

Teils umjubelter[30][31] Abzug der Wagner-Truppen aus Rostow am Don am späten Abend des 24. Juni

Am Abend des 24. Juni erklärte Prigoschin, er habe den ihm unterstehenden Truppen den Befehl erteilt, den Vormarsch auf die russische Hauptstadt Moskau, von der sie noch 200 Kilometer entfernt waren, zu stoppen und zu den eigenen Stützpunkten zurückzukehren, um ein Blutvergießen zu verhindern. Der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka hatte diesbezüglich nach eigenen Angaben nach einer Erlaubnis des russischen Präsidenten Wladimir Putin den Tag über mit Prigoschin über die Sicherheit der Wagner-Kämpfer und die Beilegung des Konflikts verhandelt.[32][33] Dmitri Peskow, Sprecher des russischen Präsidialamts, bestätigte, der belarussische Präsident habe von sich aus eine Vermittlung angeboten. Die Abmachung mit Prigoschin sehe bezüglich des Aufstands eine Straffreiheit sowohl für Prigoschin als auch für alle anderen am Aufstand beteiligten Angehörigen der Gruppe Wagner vor. Im Gegenzug werde Prigoschin nach Belarus ins Exil gehen und die Wagner-Kämpfer würden zu ihren Stationierungsorten zurückkehren.[34] In der Nacht auf den 25. Juni 2023 verließen Prigoschin und ihm untergebene Wagner-Mitglieder das Quartier der russischen Streitkräfte in Rostow am Don.[35][36] Von Passanten wurden sie bei ihrem Abzug bejubelt.[30][31]

Am 26. Juni 2023 rechtfertigte Prigoschin den Aufstand. Seine Söldnergruppe Wagner habe durch eine Intrige des Verteidigungsministeriums kurz vor der Auflösung gestanden. Ziel des „Protestmarsches“ sei es gewesen, diese zu verhindern. Außerdem habe das Ministerium Luftschläge gegen seine Truppen angeordnet, durch die 30 seiner Kämpfer ums Leben gekommen seien. Dies sei zusammengenommen der Auslöser für den Marsch in Richtung Moskau gewesen. Er habe jedoch nie die russische Regierung oder Staatsführung zu stürzen beabsichtigt. Dennoch sei sein Marsch nach Moskau ein schlechtes Zeichen für die Sicherheit Russlands. Er habe den Marsch, bei dem seine Truppen 780 Kilometer zurückgelegt hätten, 200 Kilometer vor Moskau abgebrochen, um ein Blutvergießen zu verhindern, und bedaure es, dass seine Männer auf Einheiten der russischen Luftstreitkräfte hätten schießen müssen. Seine Truppen seien aber durch diese zuerst angegriffen worden.[37][6]

Laut britischen Geheimdiensten drohten russische Geheimdienste, Familienangehörigen von Kommandeuren der Wagner-Gruppe Schaden zuzufügen, bevor Jewgeni Prigoschin den Vormarsch auf Moskau abbrach.[3]

Reaktionen

Russische Regierung und Nahestehende

Wladimir Putins Rede an die Nation am 24. Juni 2023 (Videolänge: 5:30 Min.; ohne deutschsprachige Untertitel. Die Rede mit deutschen Untertiteln ist unter folgender Quelle zu sehen: [38])

Der russische Präsident Wladimir Putin wandte sich am 24. Juni 2023 um 10 Uhr Ortszeit in einer Fernsehansprache an die Nation. Darin bezichtigte er Prigoschin, ohne ihn direkt beim Namen zu nennen, des „Hochverrats“ und bestätigte, dass in Rostow die Arbeit der zivilen und militärischen Verwaltung blockiert sei. Putin behauptete in der Rede unter anderem, dass die Situation die Existenz Russlands selbst bedrohe, bezeichnete die Meuterei als einen „Stich in den Rücken“ inmitten des andauernden russisch-ukrainischen Krieges und kündigte an, die Anführer des Aufstands zur Verantwortung zu ziehen. Er warnte u. a. vor Gebietsverlusten, stellte eine Parallele zur Russischen Revolution von 1917 her und erklärte, dass Anti-Terror-Maßnahmen in Kraft gesetzt werden.[38][39][40] Prigoschin erwiderte auf die Rede unter anderem: „Der Präsident irrt sich über den Verrat am Mutterland. Wir sind Patrioten unserer Heimat, wir haben gekämpft und kämpfen. Alle Kämpfer des PMC ‚Wagner‘. Und niemand wird sich auf Verlangen des Präsidenten, des FSB oder sonst jemands stellen.“[26][28]

Das russische Militär rief Angehörige der Gruppe Wagner dazu auf, an die „Einsatzorte“ zurückzukehren, und weiter: „Sie wurden zu dem kriminellen Unterfangen von Prigoschin und zur Teilnahme an einem bewaffneten Aufstand verleitet. Wir bitten Sie, vernünftig zu sein und sich mit Vertretern des russischen Verteidigungsministeriums oder den Strafverfolgungsbehörden in Verbindung zu setzen. Wir garantieren die Sicherheit jedes Einzelnen.“[41]

Der ehemalige russische Staatspräsident sowie amtierende Parteivorsitzende von Einiges Russland und stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, erklärte, es werde nicht zugelassen, dass „Banditen“ die Kontrolle über das Land und seine Atomwaffen übernehmen und die Welt in dem Fall „an den Rand der Zerstörung“ gerate.[42]

Der Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill I., stellte sich auf die Seite Putins und rief zur Einheit auf.[43]

Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (Nachfolgepartei der KPdSU), rief Prigoschin dazu auf, seine Bestrebungen aufzugeben.[44]

Ähnlich äußerte sich der Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, der zudem verkündete, eigene Truppen zur Unterstützung der russischen Regierung entsandt zu haben.[45][46]

Seit dem 28. Juni 2023 kursieren Berichte, die auch von verschiedenen Zeitungen mehrerer Länder aufgegriffen wurden, der stellvertretende Kommandeur der russischen Besatzungstruppen in der Ukraine, General Sergej Surowikin, sei wegen seiner Nähe zu Prigoschin festgenommen worden. Kremlsprecher Dmitri Peskow verweigerte am 29. Juni 2023 eine Antwort auf die Frage, wo Surowikin sich befindet.[47]

Oppositionelle

Die Kampforganisation der Anarcho-Kommunisten, laut The Insider die im Jahr 2022 aktivste subversive Kraft in Russland,[48] erklärte: „Weder das Putin-Regime noch Prigoschin sind unsere Freunde. Von diesem Kampf zwischen zwei Kannibalen sollten sich Anarchisten fernhalten – sollen sie sich gegenseitig so weit wie möglich ausbluten. Auf diese Weise werden sie die Menschen in Zukunft nicht stören.“[49]

Der russische Exil-Oppositionelle und frühere Oligarch Michail Chodorkowski rief Russen dazu auf, sich für eine gewaltsame Revolution zu bewaffnen. Der Aufstand habe laut Chodorkowski gezeigt, dass nur bewaffnete Männer in der Lage seien, sich einer Diktatur zu widersetzen. Dennoch sei Prigoschin „nicht unser Freund oder gar Verbündeter“. Prigoschins Aufstand werde mit dessen eigener oder Putins Liquidierung enden. „Wenn ihr euch zutraut, in Zukunft die bewaffneten Leute zu werden, die sich Putin oder Prigoschin entgegenstellen, dann ist es an der Zeit, euch zu bewaffnen.“[50][51]

Ausland

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba rief dazu auf, „die falsche Neutralität“ gegenüber Russland aufzugeben und Kiew mit allen Waffen auszustatten, die nötig seien, um die russischen Streitkräfte aus der Ukraine zu vertreiben.[52]

Während die Wagner-Truppen sich auf Moskau zubewegten, rief Putin den Präsidenten Kasachstans an. Doch Präsident Qassym-Schomart Toqajew antwortete, der Aufstand sei eine innere Angelegenheit Russlands. Dies ist im Lichte der jüngeren Vergangenheit zu sehen, denn 18 Monate zuvor hatten russische Truppen (im Rahmen der OVKS) Kasachstan dabei geholfen, Proteste gewaltsam niederzuschlagen.[53]

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan teilte seinem russischen Amtskollegen in einem Telefongespräch am 24. Juni mit, dass die Türkei bereit sei, ihn bei der Suche nach einer „friedlichen Lösung“ zu unterstützen.[54]

Großbritannien, Deutschland sowie weitere Staaten verschärften aufgrund der Vorgänge in Russland ihre Reisewarnungen für das Land.[55]

Rezeption in Deutschland

Das deutsche Auswärtige Amt und das Bundesministerium der Verteidigung mutmaßten, dass Prigoschin für seinen Putschversuch nicht die von ihm erhoffte Unterstützung von staatlichen russischen Kräften erhielt und daher den Marsch auf Moskau stoppte.[56]

Die Journalistin Ellen Ivits nannte den Aufstand einen Irrsinn und eine Tragödie, deren Ende noch ausstehe. Putin habe erst von einem Strafverfahren gegen Prigoschin gesprochen und noch am selben Abend erklären lassen, das Strafverfahren komme nicht. Das sei eine kollektive Verhöhnung des Staates, ein Versagen des Systems. In Erinnerung werde bleiben, wie Putin die Stadt Rostow kampflos aufgegeben hat, seine Hilflosigkeit und der Schrecken von Millionen Menschen vor möglichen Massakern. Die Welt sehe nun, dass Putin aus Russland einen gescheiterten Staat gemacht habe.[57]

Der Journalist Eckart Aretz sprach auf tagesschau.de von mehreren Erkenntnissen aus dem Putschversuch. Erstens sei der Einsatz von Privatarmeen für Putin zunächst attraktiv gewesen, weil er sich in Konflikte einmischen und gleichzeitig behaupten konnte, unbeteiligt zu sein. Doch dann sei Prigoschin kaum noch zu kontrollieren gewesen. Ferner habe sich gezeigt, wie schwach Russlands Armee und Aufklärungsdienste aufgestellt waren, weil ein erheblicher Teil sich in der Ukraine befinde. Man habe auch gesehen, dass Putin nicht mehr unantastbar sei.[58]

Der Politikwissenschaftler Stefan Meister sagte, Putin habe Prigoschin zu lange gewähren lassen. Die Teil-Privatisierung des Krieges habe dazu geführt, dass der russische Staat sein Gewaltmonopol zumindest in Teilen verloren habe. Ließe Putin die Dinge nun laufen, bestünde immer noch die Gefahr, dass diejenigen, die mit dem Krieg und der Führung unzufrieden sind, zu Prigoschin überlaufen. Bisher habe Prigoschin allerdings noch keine einflussreichen Verbündeten im Machtapparat. Mit dem Aufstand habe Prigoschin vermutlich sein eigenes Grab geschaufelt.[59]

Die Publizistin Svetlana Alexeeva kategorisierte den Aufstand als Black Swan, als unvorhergesehenes Ereignis mit signifikanten Auswirkungen, das als Vorlage für einen weiteren, besser durchdachten Putsch dienen könnte. Sie sieht Putins Ansehen bei den politischen und bürokratischen Eliten geschwunden sowie einen tiefen Graben zwischen der Kremlclique und der russischen Bevölkerung.[60]

Weblinks

Commons: Aufstand der Gruppe Wagner in Russland – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Russischer Geheimdienst ermittelt gegen Wagner-Chef Prigoschin. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  2. a b c Markus Ackeret: Der Machtkampf in Russland eskaliert: Wagner-Chef Prigoschin wagt den bewaffneten Aufstand gegen die russische Armeeführung – Putin bezichtigt ihn des Hochverrats. In: Neue Zürcher Zeitung. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  3. a b Ben Riley-Smith, Colin Freeman, James Kilner: Russian agents’ threat to family made Prigozhin call off Moscow advance. In: The Telegraph. 25. Juni 2023 (telegraph.co.uk [abgerufen am 27. Juni 2023]).
  4. a b c oryxspioenkop.com – Chef’s Special – Documenting Equipment Losses During The 2023 Wagner Group Mutiny (englisch)
  5. ‘We did not want to spill Russian blood’: Prigozhin makes statement on Wagner Group’s mutiny attempt. In: Novaya Gazeta Europe. 26. Juni 2023, abgerufen am 28. Juni 2023 (englisch).
  6. a b Nach Wagner-Aufstand: Prigoschin dementiert Umsturzversuch. tagesschau.de, 26. Juni 2023, abgerufen am 26. Juni 2023.
  7. Militärblogs: Mindestens 13 russische Soldaten bei Aufstand getötet. In: Süddeutsche Zeitung. 25. Juni 2023, abgerufen am 26. Juni 2023.
  8. Anton Troianovski, Aric Toler, Julian E. Barnes, Christiaan Triebert, Malachy Browne: New Leaked Documents Show Broad Infighting Among Russian Officials. In: The New York Times. 13. April 2023 (englisch, nytimes.com [abgerufen am 13. April 2023]).
  9. Andreas Apetz: Streit eskaliert: Russische Soldaten schießen auf Wagner-Söldner. In: fr.de. Frankfurter Rundschau, 6. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  10. Fabian Babic: Nach Schüssen auf Auto der Söldner. Wagner-Gruppe nimmt russischen Kommandanten gefangen. In: blick.ch. 5. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  11. Пригожин отказался следовать совету Путина «вагнеровцам» подписать контракты с Минобороны. In: themoscowtimes.com. The Moscow Times, 14. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (russisch).
  12. Wagner Chief Defies Russian Military’s Orders to Formalize Hierarchy. In: themoscowtimes.com. The Moscow Times, 12. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  13. Martin Fornusek: UK Defense Ministry: Prigozhin ‘raises stakes’ with Russia’s Defense Ministry over new contract policy. In: kyivindependent.com. The Kyiv Independent, 20. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  14. Prigoschin ruft zum Kampf gegen Russlands Militärführung. Abgerufen am 24. Juni 2023.
  15. Wagner-Chef ruft Russen zu Widerstand gegen Militärführung auf. 23. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  16. Wagner-Chef Prigoschin widerspricht russischer Kriegsbegründung. In: tagesschau.de. Abgerufen am 24. Juni 2023.
  17. Prigoschin ruft zum Kampf gegen Russlands Militärführung. In: tagesschau.de. Abgerufen am 24. Juni 2023.
  18. Patrick Mayer: „Wir waschen uns in Blut“: Prigoschin widerspricht Putins Ukraine-Erklärung. In: merkur.de. Münchner Merkur, 23. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  19. a b ‘We’re saving Russia’. In a meeting with military leaders, Yevgeny Prigozhin demanded respect. Read the transcript. In: meduza.io. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  20. US officials saw signs Prigozhin was planning challenge to Russian military but surprised by rapid escalation. In: CNN Politics. 24. Juni 2023, abgerufen am 25. Juni 2023 (englisch).
  21. n-tv NACHRICHTEN: Wagner hat Kontrolle in Rostow übernommen. Abgerufen am 24. Juni 2023.
  22. Jonathan Yerushalmy, Rostov-on-Don: why has Russian city been targeted by Wagner group?, The Guardian vom 24. Juni 2023.
  23. a b RedaktionsNetzwerk Deutschland: Russland: Machtkampf zwischen Prigoschin und Moskau – Wagner-Söldner sollen Rostow-am-Don kontrollieren. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  24. Aufstand des Wagner-Chefs Prigoschin: »Wir retten Russland«. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  25. Wagner-Söldner marschieren in Russland ein – Putin spricht von „Verrat“. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  26. a b Henrik Bahlmann, Ann-Dorit Boy, Christina Hebel: Berichte: Russische Helikopter beschießen Wagner-Konvoi auf der M4. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  27. Helen Regan, Andrew Raine: Putin accuses Wagner chief of stoking ‘armed rebellion:’ Live updates. In: CNN. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  28. a b Пригожин назвал Путина подонком и обвинил армию в обстреле дорог с мирными гражданами. In: themoscowtimes.com. The Moscow Times, 22. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (russisch).
  29. Henrik Bahlmann, Ann-Dorit Boy, Christina Hebel, Sabrina Knoll, Alexander Sarovic: Direktflüge raus aus Moskau ausverkauft. In: spiegel.de. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  30. a b Bilder aus Russland: Wagner-Truppe zieht aus Rostow am Don ab. In: Der Spiegel. 25. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 25. Juni 2023]).
  31. a b Rückzug der Wagner-Truppen – Kreml lässt Verfahren gegen Jewgenij Prigoschin fallen. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 25. Juni 2023]).
  32. Prigoschin stoppt nach eigenen Angaben Marsch auf Moskau. In: spiegel.de. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  33. Paul Sonne, Anton Troianovski, Anatoly Kurmanaev: Russia-Ukraine War: Russian Paramilitary Chief Says His Forces Will Turn Around. In: The New York Times. 24. Juni 2023 (nytimes.com [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  34. Rückzug der Wagner-Truppen – Kreml lässt Verfahren gegen Jewgenij Prigoschin fallen. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  35. Henrik Bahlmann, Ann-Dorit Boy, Christina Hebel, Sabrina Knoll, Charlotte Lüder, Steffen Lüdke, Alexander Sarovic: Russland-News: Ukrainische Armee verstärkt offenbar Gegenoffensive. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  36. Kurzzeit-Revolte gegen den Kreml: Prigoschin soll auf dem Weg nach Belarus sein – US-Geheimdienste wussten vom Aufstand. In: Der Spiegel. 25. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 25. Juni 2023]).
  37. Ukraine-News: »Freundlicher Nachbar«: Prigoschin verteidigt Marsch Richtung Moskau. In: Der Spiegel. 26. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 26. Juni 2023]).
  38. a b Wladimir Putin: Fernsehansprache im Konflikt mit Jewgenij Prigoschin. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  39. TV-Ansprache des Präsidenten: Putin nennt Wagner-Aufstand „Stich in den Rücken“ des russischen Volkes. In: Der Tagesspiegel Online. 24. Juni 2023 (tagesspiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  40. Armin Arbeiter: Warnung vor Bürgerkrieg: Putins Rede im Wortlaut. In: Kurier. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  41. Wagner-Kämpfer rücken offenbar weiter vor. In: tagesschau.de. Abgerufen am 24. Juni 2023.
  42. Moscow mayor urges people to stay home as Wagner soldiers advance – Russia-Ukraine war live. In: The Guardian. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  43. Russia’s Orthodox Leader Urges ‘Unity,’ Says Supports Putin. In: barrons.com. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  44. Геннадий Зюганов призвал Пригожина отбросить личные амбиции и защищать Родину. Abgerufen am 24. Juni 2023 (russisch).
  45. Aufstand der Wagner-Söldner. Tschetschenenführer Kadyrow entsendet angeblich Truppen zur Unterstützung Moskaus. In: rnd.de. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  46. Reaktionen auf Krise in Russland: Putin-Verbündeter Kadyrow spricht von »Dolch im Rücken«. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  47. Reinhard Veser: Folgen auf den Aufruhr nun die Säuberungen? Frankfurter Allgemeine (FAZ.net), 29. Juni 2023, abgerufen am 30. Juni 2023.
  48. Alisa Zemlyanskaya: This train is on fire: how Russian partisans set fire to military registration and enlistment offices and derail trains. In: The Insider (Magazin). 6. Juli 2022, abgerufen am 7. Juni 2023.
  49. CrimethInc Ex-Workers Collective: CrimethInc. : Russian Anarchists on the Wagner Mutiny : Statements from Three Anarchist Organizations. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  50. Henrik Bahlmann, Ann-Dorit Boy, Christina Hebel, Sabrina Knoll, Alexander Sarovic: Russland-News: Truppen von Ramsan Kadyrow offenbar vor Rostow am Don. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023 (spiegel.de [abgerufen am 24. Juni 2023]).
  51. Ex-Oligarch Chodorkowski unterstützt Aufstand. In: tagesschau.de. Abgerufen am 24. Juni 2023.
  52. Mansur Mirovalev: Ukraine responds to Wagner mutiny in Russia with caution, hope. Abgerufen am 24. Juni 2023 (englisch).
  53. Andrew D’Anieri: Putin’s weakness has been revealed. Here’s how Russia’s neighbors are reacting. In: New Atlanticist. 25. Juni 2023, abgerufen am 25. Juni 2023.
  54. Kevin Doyle, Hamza Mohamed, Dalia Hatuqa: Wagner chief to go into exile after backing down on Moscow march. Abgerufen am 25. Juni 2023 (englisch).
  55. Auswärtiges Amt rät „bis auf Weiteres“ von Besuchen im Moskauer Stadtzentrum ab. In: Stern. 24. Juni 2023, abgerufen am 24. Juni 2023.
  56. Rückzug der Wagner-Truppen: Bundesministerien vermuten mangelnde Unterstützung für Prigoschin. In: Der Spiegel. 24. Juni 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Juni 2023]).
  57. Ellen Ivits: Die Rebellion von Prigoschin endet in der kollektiven Verhöhnung des Staates. In: stern.de. 25. Juni 2023, abgerufen am 25. Juni 2023.
  58. Eckart Aretz: Vier Erkenntnisse aus dem Wagner-Aufstand. In: tagesschau.de. 25. Juni 2023, abgerufen am 25. Juni 2023.
  59. Anna Schmid: „Ich gehe davon aus, dass Prigoschin das nicht überleben wird“. In: focus.de. 25. Juni 2023, abgerufen am 25. Juni 2023.
  60. Svetlana Alexeeva: Das System Putin ist erschüttert – Der Wagner-Aufstand war nur die Generalprobe. In: n-tv.de. 2. Juli 2023, abgerufen am 2. Juli 2023.

Information

Der Artikel Aufstand der Gruppe Wagner in Russland in der deutschen Wikipedia belegte im lokalen Ranking der Popularität folgende Plätze:

Der präsentierte Inhalt des Wikipedia-Artikels wurde im 2023-07-03 basierend auf extrahiert https://de.wikipedia.org/?curid=12715280